Dracula - Stoker, B: Dracula
herbeigekommenen Pfleger ihm die Zwangsjacke anlegten, begann er zu kreischen: »Ich werde sie besiegen, sie werden mich nicht ausrauben und langsam töten, ich kämpfe nämlich für meinen Herrn und Meister!« Er erging sich darauf noch in allen möglichen, zusammenhanglosen Wahnreden. Nicht ohne Schwierigkeiten brachten wir ihn nach Hause und in die gepolsterte Zelle. Einer der Pfleger, Hardy, hat sich den Finger gebrochen. Ich habe ihn sogleich behandelt, es geht ihm ganz gut.
Die beiden Fuhrleute drohten zuerst laut mit einer Schadenersatzklage und schworen, die ganze Strenge des Gesetzes gegen uns in Anwendung bringen zu wollen. In ihre Drohungen aber mischte sich leise eine Art Beschämung, dass sie sich zu zweit von einem schwachen Narren hatten besiegen lassen. Sie sagten, wenn sie nicht schon ihre ganze Kraft beim Aufheben und Verladen der schweren Kisten hätten aufbrauchen müssen, so hätten sie kurzen Prozess mit ihm gemacht. Sie gaben als weiteren Grund für ihre Niederlage ihren außerordentlichen Durst an, den sie bei ihrer staubigen Arbeit und bei der großen Entfernung von jeglichem Wirtshaus bekommen hätten. Ich verstand ihre Anspielung wohl, und nach einem großen Glas Rum, oder besser gesagt mehrerer solcher, sowie einem Sovereign für jeden ließ die Heftigkeit ihrer Drohungen nach. Sie versicherten mir sogar bald, dass sie es jederzeit mit noch bösartigeren Narren aufnehmen wollten, wenn sie dadurch so angenehme Herren wie den |230| Unterzeichner dieses Berichtes kennenlernen würden. Ich schrieb mir Namen und Adressen auf für den Fall, dass man ihrer einmal bedürfen sollte. Diese sind wie folgt: Jack Smollett aus Duddling’s Rents, King George’s Road in Great Walworth, und Thomas Snelling, Peter Parley’s Row, Guide Court, Bethnal Green. Sie sind beide angestellt bei Harris & Sons, Land- und Seespedition, Orange Master’s Yard, Soho.
Ich werde Ihnen weiterhin alles Wichtige, was hier vorfällt, berichten, und wenn sich etwas von besonderer Bedeutung ereignen sollte, telegrafieren.
Mit vorzüglicher Hochachtung,
Patrick Hennessey
Brief von Mina Harker an Lucy Westenra
(von der Adressatin nicht mehr geöffnet)
18. September
Meine liebste Lucy,
ein furchtbarer Schlag hat uns getroffen: Mr. Hawkins ist plötzlich gestorben. Manche mögen ja sagen, das wäre doch nicht so schlimm für uns, aber wir hatten ihn so lieb gewonnen, dass es uns ist, als hätten wir einen Vater verloren. Ich kannte ja weder Vater noch Mutter, und so ist mir der Tod dieses edlen, guten Mannes wirklich ein Schlag. Auch Jonathan ist sehr verstört. Es ist zum einen die Trauer, die tiefe Trauer um den teuren, lieben Mann, der ihm sein ganzes Leben lang ein Freund gewesen ist, der ihn wie einen Sohn behandelt und ihm nun schließlich ein Vermögen hinterlassen hat, das für so bescheidene Leute wie uns fürstlich zu nennen ist. Zum anderen fühlt Jonathan den Schicksalsschlag aber auch in anderer Hinsicht. Er sagt, dass die Verantwortung, die jetzt auf ihm lastet, seine Nerven angreife. Er beginnt, an sich selbst zu zweifeln. Ich versuche ihn aufzuheitern, und mein Glaube an ihn hilft ihm wohl auch, wieder etwas mehr |231| an sich selbst zu glauben. Aber auch der furchtbare Schock, den er erlitten hat, wirkt noch nach. Oh, es ist zu traurig, dass eine so gute, gerade und anständige Natur wie die seine – eine Natur, die es ihm ermöglicht hat, mithilfe unseres guten, teuren Freundes in wenigen Jahren vom Praktikanten zum Chef aufzusteigen – so sehr verwundet wurde, dass ihre ganze Kraft dahin ist. Verzeih mir, Liebste, wenn ich Dir mitten in Deinem Glück mit meinem Jammer das Herz schwer mache. Aber, ich
muss
irgendjemandem mein Herz ausschütten, denn es macht mich schrecklich müde, Jonathan immerzu eine tapfere, optimistische Miene zu zeigen. Hier habe ich niemanden, dem ich mich anvertrauen könnte. Ich fürchte mich davor, übermorgen nach London zu müssen, aber Mr. Hawkins hat in seinem Letzten Willen angeordnet, dass er in einem Grab mit seinem Vater ruhen wolle. Da gar keine weiteren Verwandten da sind, kommt nur Jonathan als Hauptleidtragender in Betracht. Ich werde zu Euch kommen, liebe Lucy, und sei es auch nur auf ein paar Minuten. Vergib mir, dass ich Dich mit so etwas behellige, Gottes Segen,
Deine Dich liebende
Mina Harker
Dr. Sewards Tagebuch
20. September
Nur Selbstüberwindung und die Macht der Gewohnheit lassen mich heute einen Eintrag ins Tagebuch machen. Ich bin
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