Dracula - Stoker, B: Dracula
so elend, so niedergedrückt, so verzweifelt an der Welt und allem, was in ihr ist, dass es mir ganz gleich wäre, wenn ich jetzt das Rauschen der Flügel des Todesengels vernehmen müsste. Und seine grausamen Fittiche haben gerauscht: Lucys Mutter, Arthurs Vater, und schließlich … Doch ich will der Reihe nach berichten:
Ich löste, unserer Abmachung gemäß, van Helsing bei der Wache an Lucys Bett ab. Wir baten Arthur, sich auch etwas Ruhe zu gönnen, aber er lehnte zunächst ab. Ich musste ihm erst klarmachen, |232| dass wir seiner Hilfe unter Umständen schon am nächsten Morgen wieder bedürften und dass einzig Lucy darunter leiden müsste, wenn wir alle vor Erschöpfung zusammenbrächen. Das wirkte, und er entschloss sich zum Gehen. Auch van Helsing redete ihm gütig zu. »Kommen Sie, mein Freund«, sagte er, »kom men Sie mit mir. Sie sind auch krank und schwach und hatten außer dem Angriff auf Ihre körperliche Leistungsfähigkeit, den wir ja alle kennen, noch genug Sorge und innere Pein zu erdulden. Sie dürfen nicht allein bleiben, denn allein sein heißt, der Angst und dem Schrecken ausgesetzt zu sein. Kommen Sie ins Wohnzimmer, dort brennt ein warmes Feuer und es gibt zwei Sofas. Sie werden auf dem einen, ich werde auf dem anderen liegen, und unsere Sympathie wird uns gegenseitig ein Trost sein, auch wenn wir nicht sprechen, und selbst wenn wir schlafen.« Arthur ging mit ihm, wobei er noch einen langen, sehnsüchtigen Blick auf Lucy warf, die in ihren Kissen lag, weißer als die Laken. Sie lag ganz still, und ich sah mich im Zimmer um, ob alles in der gehörigen Ordnung wäre.
Der Professor hatte in diesem und im anliegenden Zimmer reichlich vom Knoblauch Gebrauch gemacht. Alle Fensterrahmen waren damit bekränzt, und auch um Lucys Hals schlang sich, über dem seidenen Tuch, das van Helsing ihr angelegt hatte, ein Gewinde der stark duftenden Blüten. Lucy atmete schwer. Ihr Gesicht sah schauerlich aus. Der geöffnete Mund zeigte ihr bleiches Zahnfleisch, und ihre Zähne sahen in dem schwachen, ungewissen Licht noch länger aus als am Morgen. Besonders die beiden Eckzähne schienen länger und spitzer zu sein als zuvor, aber vielleicht war dies auch nur eine Täuschung. Ich setzte mich an ihr Bett, und im selben Augenblick bewegte sie sich, als wäre sie ungehalten. Zugleich vernahm ich vom Fenster her ein dumpfes Klopfen und Flattern. Ich schlich mich leise hin und spähte durch einen Ritz des Vorhanges hinaus. Es war heller Mondenschein, und ich konnte erkennen, dass das Geräusch von einer großen Fledermaus stammte, die, zweifellos |233| durch das schwache Licht angezogen, weite Kreise flog und dabei hin und wieder das Fenster berührte. Als ich auf meinen Platz zurückkehrte, bemerkte ich, dass Lucy ihre Lage etwas verändert und die Knoblauchblüten von ihrem Hals gerissen hatte. Ich brachte sie so gut wie möglich wieder in Ordnung und nahm meine Wache auf.
Nach einiger Zeit wachte sie auf, und ich gab ihr etwas zu essen, wie es van Helsing angeordnet hatte. Sie nahm nur wenig zu sich, und auch das nur mit großer Mühe. Das unbewusste Ringen um Kraft und Gesundheit, das ihre bisherige Krankheit immer begleitet hatte, schien sie aufgegeben zu haben. Eigentümlich war, dass sie in dem Augenblick, da sie wieder zu sich kam, die Knoblauchblüten krampfhaft an sich zog. Wenn sie in ihrem lethargischen Schlaf lag und schwer atmete, stieß sie die Blüten von sich, sowie sie aber erwachte, griff sie rasch wieder danach. Ein Irrtum war in diesem Punkt nicht möglich, denn in den noch folgenden Stunden wechselten Schlaf und Wachen häufig, und immer konnte ich die entsprechenden Bewegungen beobachten.
Um sechs Uhr löste mich van Helsing ab. Arthur war gerade in einen Halbschlummer gefallen, und wir gönnten ihm seine Ruhe. Als van Helsing Lucy sah, konnte ich wieder das zischende Atemholen bei ihm vernehmen. Er flüsterte: »Ziehen Sie die Vorhänge auf, ich brauche Licht!« Dann beugte er sich nieder und untersuchte sie genau, wobei sein Gesicht fast ihren Körper berührte. Er entfernte die Blüten und lüftete das seidene Tuch um ihren Hals, dabei prallte er vor Schreck zurück, und ich hörte ihn halb unterdrückt ausrufen: »Mein Gott!« Ich beugte mich nun auch über die Kranke und sah sie an, wobei mir ein kalter Schauer über den Rücken lief: Die Wunden an der Kehle waren vollkommen verschwunden!
Ganze fünf Minuten stand van Helsing da und starrte sie an, in seinem Antlitz war ein
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