Dracyr – Das Herz der Schatten
blieb eine Weile auf die Bettkante gestützt stehen. Ihr Bruder lebte. Und er war bereit gewesen, sie zu töten, wenn er das Gefühl gehabt hätte, dass sie ihn verraten könnte.
Kay lachte bitter und richtete sich auf. Das Fläschchen mit Gift in ihrer Rocktasche schien ein Loch in ihre Haut zu brennen. Da lag die Lösung für all ihre Probleme, da war das Hilfsmittel, nach dem sie gesucht hatte. Ein paar Tropfen hier, ein paar dortâ die Schattenreiter und der Sohn des Teufels wanden sich in Qualen und spuckten ihr Blut und ihr Leben aus.
Des Teufels Sohn. Kay schauderte und schloss die Hand um das Fläschchen, um es in den Kamin zu schleudern. Aber ehe ihre Finger sich öffnen und ihr Arm die Bewegung vollenden konnte, griff sie wieder fest zu und wandte sich um. Sie barg das Fläschchen in der Schublade mit ihrer Wäsche, schob es ganz nach hinten an die Wand und schloss den Schrank. Schwer atmend lehnte sie sich gegen den Schrank und schloss die Augen.
Damian. Der Auftrag, den sie erhalten hatte, war klar und deutlich: Töte den Dracyrlord und alle, die ihm dienen. Töte seinen Sohn.
Deswegen war sie hier. Warum also machte der Gedanke ihr eine solche Angst? Sie biss auf ihre Knöchel, bis es schmerzte. Es war so einfach, jedes Kind hätte es tun können. Sie war diejenige, die früher oder später auch in die Nähe des Dracyrmeisters gelangen würde. Was Bertha unmöglich war, konnte Kay gelingen. Es nützte nichts, den Damian und seine Schattenreiter zu töten, wenn nicht auch gleichzeitig ihr Herr vergiftet wurde.
Kay seufzte tief und schlang die Arme um den Brustkorb. Die Schattenreiter. Die fröhliche Branwen, die schnippische Esbeth, der heiÃblütige Evan, die beiden arroganten Pinsel Tyron und Corena, der zuverlässige Morgan, der stille Neirin⦠könnte sie es wahrhaftig tun?
Nun gut, Corenaâ¦
Kay grinste. Der Gedanke pustete wie kalter Wind alle Befürchtungen und Ãngste davon. Eins nach dem anderen. Vielleicht würde es ihr gelingen, ihr ursprüngliches Ziel zu verfolgen und die Welt allein von Lord Harrynkar zu befreien. Das würde ausreichen, um sein Herrschaftsgebäude zum Einsturz zu bringen. Die Dracyrreiter würden sich in alle Winde zerstreuen und die Königstreuen konnten den Rest von Lord Harrynkars Anhängern leicht überwältigen.
Damian war die einzige Unbekannte in dieser Rechnung. War er genauso wie sein Vater? Würde er die Gelegenheit nutzen, sich selbst auf den Thron zu setzen?
Kay wusste es nicht.
Gegen Abend kehrten die Dracyrreiter zurück. Kay bemerkte es an der Unruhe, die plötzlich durch das Haus schwappte. Bedienstete eilten mit klappernden Pantinen hin und her, Türen schlugen, aus der Küche klang das Klappern von Töpfen und das gedämpfte Schimpfen der Köchin.
Kay schloss ihr Buch und richtete sich auf. Sie saà im Küchengarten unter dem Apfelbaum, einer ihrer liebsten Orte, an dem sie sich so geschützt fühlte wie im Haus ihrer Tante. Sie rieb sich über die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen bildete. Das Getriebe in der Küche lieà vermuten, dass ein Festmahl anberaumt worden war. Sie hatte selbst als Hausmädchen einen dieser Abende miterlebt, sie hatte nicht bei Tisch bedient, aber in der Küche aushelfen müssen. Dies war eine Gelegenheit, die sich so schnell nicht wieder bieten würde. Schon gar nicht, wenn sie beim nächsten Mal selbst zu den Reitern gehören würdeâ¦
Eilig schob sie den Gedanken beiseite.
Das Esszimmer brummte vor Geschäftigkeit. Die Tafel war festlich eingedeckt, Wein funkelte in geschliffenen Pokalen, es duftete nach Pilzsuppe und frischen Kräutern. Die Stimmen der Zöglinge waren laut, aufgeregt, schrill. Kay blieb an der Tür stehen und sah wie eine Fremde zu, wie Corena und Esbeth über irgendetwas laut und hektisch lachten, wie Morgan am Fenster stand und ein Glas Wein in einem Zug hinunterstürzte, wie Tyron und Evan auf dem Teppich miteinander rangelten und offensichtlich darum wetteiferten, wer am lautesten dabei grunzen, knurren und stöhnen konnte, wie Neirin gegen einen Stuhl trat, dass er gegen die Wand polterte und sich dann ebenfalls auf Tyron stürzte, was Corena zu lauten Anfeuerungsrufen inspirierte, und wie Branwen, die still in der Ecke gesessen hatte, aufsprang und zu ihr gelaufen kam, sich in ihre Arme warf und flüsterte: » Es war so
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