Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
noch immer in die schwarze Kutte gehüllt war. Wütend riß er sich den Stoff vom Leib und warf das Bündel achtlos zur Seite.
Damos hob die Hand und sagte leise: »Ich habe heute nacht geträumt. Zwar gebe ich nicht mehr auf Träume, als sie wert sind, aber dieser Traum war anders. Ich träumte, es käme ein gewaltiges Ungeheuer aus dem Himmel, von jenseits der Berge im Osten …«
Partho unterbrach ihn: »Ich glaube nicht an solches Zeug! Wir schreiben das Jahr des Drachen, und du wirst diesen Drachen gesehen haben. Einen Drachen mit mächtigen Flügeln!«
»Und mit einem leeren Magen!« stellte Nabib fest.
Partho deutete auf ihn und erklärte: »Er ist geschwätzig, aber unter seiner schlotternden Haut schlägt ein tapferes Herz.«
»Und ein rühriges Mundwerk«, vollendete Bruder Damos. »Ich werde euch meinen Traum nicht erzählen, aber ich werde ihn deuten. Wir sind in Todesgefahr. Wir könnten fliehen, aber dann würde Ada sterben. Wenn wir aber bleiben, wird eine Macht auf unserer Seite streiten, die wir nicht kennen.«
»Du meinst den schlafenden Gott?« fragte Partho.
»Es geht eine alte Legende. Sie sagt, daß er aufwacht, wenn Urgor in wirklicher Gefahr ist. In meinem Traum schlug der Drache die Volksmenge in die Flucht.«
Die Sonne war aufgegangen. Ihre Strahlen waren kraftlos. Hinter der Stadt kamen graue Schwaden aus den dürren Bergwäldern.
»Sie halten die junge Prinzessin Ada zu gut bewacht in der Stadt gefangen«, meinte Damos nachdenklich. Sie standen jetzt unter dem vorspringenden Dach des größten Hauses. »Dort können wir sie nicht befreien. Aber hier, rund um den Schrein, werden nur wenige Menschen sein. Hier ist es leichter, Obad zu überlisten.«
Der Tempel war ein auf drei Seiten offenes Bauwerk aus weißen, sorgfältig bearbeiteten Baumstämmen. Ein kleiner, gepflegter Hain voller Felsen und Büsche, Bäume und Blumen umgab ihn. Die immergrünen Gewächse strömten einen betäubenden Geruch aus. Vom Tempel verlief ein Weg, sorgfältig mit flachen Steinen gepflastert, bis zu den kleinen Häusern, hinter denen sich hügelabwärts nach allen Seiten die Felder und Weiden fortsetzten.
Das Dach des Tempels bestand aus Balken, die mit dichtgebündeltem Reisig abgedichtet waren. Darunter ruhte auf einer steinernen Plattform der gläserne Sarg, in dem ein junger Mann in einem todesähnlichen Schlaf lag. Seit neunzehn Jahren – damals hatten ihn Damos und seine Freunde gefunden, ausgegraben und hierhergeschleppt.
»Wie sollte er helfen können?« fragte der Hauptmann zweifelnd. Er teilte den Glauben des Älteren nicht. Sie gingen zurück ins Haus. Partho suchte sich einen Platz, wo er schlafen konnte. Die ersten Stunden des Tages verstrichen.
Sechs Frauen und fünfzehn Männer, alle über vierzig oder fünfzig Sommer alt, bildeten diese kleine Niederlassung der Weisen des Berges. Es war eine von vielen Ansiedlungen. Hier, nahe Urgor, unter dem Schutz der starken Hand König Alacs, bauten sie Häuser, züchteten Vieh, legten Äcker an und ein Wassersystem und gaben an jeden, der zu ihnen kam, ihr Wissen weiter. Ihnen übertrug der König auch die Erziehung seiner beiden Töchter.
Partho brachte ihnen die Dinge bei, die Damos ihnen nicht vermitteln konnte: Bogenschießen, Reiten, die Jagd mit dem Raubvogel, den Gebrauch verschiedener Waffen. Er hegte leidenschaftliche Gefühle für Amee, doch sie träumte nur von dem Mann, der in der gläsernen Röhre schlief. Vom schlafenden Gott. Sie verglich ihn natürlich mit Partho, doch gegen die Gestalt aus einem romantischen Mädchentraum konnte dieser nicht bestehen.
In der Stille des Tempels sang irgendwo in den Zweigen versteckt ein kleiner Vogel. Bruder Damos’ und Amees Schritte knirschten im Kies, mit dem der Boden des Bauwerkes aufgeschüttet war. Amee sagte entschlossen:
»Ich muß dich etwas fragen, Vater Damos!«
Er lehnte sich gegen die Balken und nickte. Sein Blick heftete sich auf die Gestalt des Schlafenden. Ein kräftiger Mann, der es mit den besten Männern aufnehmen konnte, die Damos in seinem langen Leben kennengelernt hatte.
»Du hast uns die Alte Sprache beigebracht. Wir haben oft gefragt: Warum? Und woher kommt sie? Du hast immer ausweichend geantwortet …«
»Nicht ausweichend«, widersprach er.
»Ich empfand es so«, unterbrach sie ihn.
Der Weise sah in ihre Augen und wußte, daß nun die Zeit reif war. Bisher war er in der Tat solchen Fragen stets mit mehr oder weniger Geschick ausgewichen. Er erkannte
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