Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
eine überraschende Reife im Gesicht der jungen Frau. Es waren keine Jungmädchenwünsche mehr, den Schläfer zu wecken. Jetzt, in Urgors dunkelster Stunde, war der Augenblick gekommen, ein Bündnis mit den Mächten der Vergangenheit zu suchen.
»Vor vielen Generationen gab es ein gewaltiges Reich auf der Welt«, begann er. »Niemand weiß, wo es lag. Wir wissen auch nicht, warum es unterging. Legenden berichten, daß die Götter es mit Feuer und Erdbeben zerstörten. Mit dem Untergang des Reiches endete das Goldene Zeitalter. Nur wenige Menschen überlebten. Von ihnen, weitergegeben durch Berichte und Erzählungen, haben wir das bruchstückhafte Wissen und die Sprache.«
»Verrät dieses Wissen nichts über den Schrein und wer der Schläfer ist?« fragte sie.
Damos schüttelte bedauernd den Kopf.
»Und dort, wo ihr ihn fandet, gab es keine Hinweise, keine Aufzeichnungen?«
»Ja, es gab viele Schriften in der Alten Sprache. Nur wenige konnten wir bergen. Nur wenige waren unzerstört. Und die wir haben, vermochten wir nicht zu lesen. Die Bedeutung so vieler Worte verstanden wir nicht.« Er deutete auf den gläsernen Schrein. »Wie diese Worte und Zahlen hier auf dem Metall unter der runden schwarzen Abdeckung am Kopfende. Wir wissen nicht, was sie bedeuten.«
Amee ging halb um den Schrein herum. Wie so oft in der Vergangenheit war sie in den Anblick des schlafenden Gottes versunken. Er sah nicht aus wie ein Gott, sondern wie ein Mann, der ein paar Jahre älter als sie, dazu größer und kräftiger als Partho war. Sein Haar war von der gleichen Farbe wie ihres – braun wie die Frucht der Kastanie. Sein Gesicht war trotz seiner Jugend gut geschnitten, es verriet Willensstärke und einen wachen Verstand. Er war gänzlich bartlos. Die Prinzessin seufzte und riß sich los.
»Habt ihr in all den Jahren niemals versucht, ihn aufzuwecken?«
»Unser Unverstand hätte ihn töten können.«
Seine Haut zeigte die Farbe heller Bronze. Er war nackt bis auf ein Amulett, das an einer Kette auf der Brust lag und aussah wie eine kleine, strahlende Sonne. Er hatte noch niemals die Augen geöffnet – doch fast alle Stadtbewohner kannten ihn. Amee hob den Blick von den vertrauten Zügen und musterte Damos über die Wölbung des Schreines hinweg.
»Aber wir haben vor einiger Zeit diese schwarze Abdeckung geöffnet. Bruder Kelim entdeckte den Mechanismus. Hier …« Er drückte an einer Stelle, und die runde, leicht gewölbte Scheibe klappte auf. Darunter befand sich ein Gewirr rätselhafter metallischer Linien und Stifte. Darüber eine winzige Lampe, die in langen, regelmäßigen Abständen blinkte.
»Was ist das?« flüsterte sie mit angehaltenem Atem. »Der Schlag seines Herzens?«
Damos schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht sein Herzschlag, aber der des Schreins. Manchmal, wenn man ihn berührt, kann man sein Leben spüren. Bruder Kelwin glaubt zu wissen, daß der Schläfer erwachen wird, wenn dieses geheimnisvolle Leben des Schreins endet. Und er glaubt zu wissen, wie man es beenden kann. Wir haben eine kleine gläserne Tafel, deren Bedeutung uns bis vor kurzem unklar war. Ich habe nach ihm und der Tafel gesandt …«
Amees Gesicht rötete sich vor Aufregung. »So willst du nun den Versuch wagen?«
Damos nickte mit einem Ausdruck des Bedauerns. »Wir sahen uns immer als Bewahrer und Vermittler von Wissen. Vor allem als Bewahrer. Vieles wäre ohne uns längst unwiederbringlich verloren. Dieser schlafende Mann ist der Schlüssel zu einer Zeit der Legenden und großen Wunder, wenn nur ein wenig Wahrheit in den alten Überlieferungen ist. Vielleicht ist er der Schlüssel zu großer Macht. Seine Welt ist versunken. Er weiß wahrscheinlich, weshalb, und kann unsere Welt vor einem ähnlichen Geschick bewahren.« Er lächelte. »Du siehst, wir erwarten alle Wunderbares von diesem Mann, der vielleicht in seiner Zeit nur ein einfacher Bauer gewesen ist.«
Amee schüttelte entschieden den Kopf. »Er trägt das Amulett eines hohen Herrn. Sie hätten nicht einen Bauern oder Sklaven in diesen Schrein gelegt. Ich halte ihn für einen ganz besonderen Mann. Ich glaube, daß er all diese Wunder vermag, die wir von ihm erhoffen«, flüsterte sie.
Das Lächeln des alten Mannes vertiefte sich. »Immer waren die Träume größer und mächtiger als die Wirklichkeit, meine Tochter.«
»Aber sind es nicht gerade die Träume, die uns die Kraft geben, uns der Wirklichkeit zu stellen, wie grausam sie auch manchmal sein mag, Vater Damos?«
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