Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Gerätschaften zum höher gelegenen Bergversteck aufbrachen, von wo aus sie sich später, wenn der Weg sicher vor Obads Dunklen Wächtern war, zur Burg der Weisen aufmachen würden. Bald würde das kleine Dorf hier verödet sein. Damos kam aus dem größten Haus, sah den beiden Gruppen zu und winkte Partho zu sich.
»Dragon war nicht zu bewegen, sich der Gruppe anzuschließen«, sagte er bedauernd. »Seine Erinnerungen, wenn sie je wiederkehren, sind tausendmal soviel wert wie all die Schriften, die wir in Sicherheit bringen. Zu wertvoll, sie der Gefahr auszusetzen, sie durch einen Pfeil oder einen Schwertstreich für immer zu verlieren. Aber ich kann ihn nicht in Eisen legen. Er ist ein freier Mann. Hab ein Auge auf ihn, Hauptmann. Er scheint die Dinge nicht so ernst zu nehmen. Er meint, es werde gar nicht zum Kampf kommen.«
»Wo ist er?«
»Im Tempel.«
»Amee?«
Damos ließ die Frage unbeantwortet, ging zurück zum Eingang und winkte lange der Gruppe seiner Freunde zu, die auf der anderen Seite des Hügels hinunterritten und außer Sicht kamen. Nach dem Verklingen der letzten Huf schlage breitete sich wieder Stille aus. Sie wurde unterbrochen vom Klang des zweiten Signals aus Urgor. Es war ein schauerliches Gemenge von Tönen.
Die Prozession nahm ihren Anfang am Tempel des Gottes mit den vielen Namen. Das Kultbild zeigte einen schwarzen Geier mit einem Menschenkopf, der dämonische Züge trug. Der Geier schien in den Schwaden des Räucherwerks beifällig mit den Flügeln zu schlagen. Sie banden Ada los, die gefesselt auf einer steinernen Bank lag, und gaben ihr etwas zu essen.
Die ganze Zeit stand Obad da, verbarg seine Hände in den Ärmeln der Kutte und starrte sein Opfer an. Der Händler und der Hauptmann, die sie hatten opfern wollen, waren geflohen. Achmad, der Wärter, war ausgepeitscht worden und wimmerte bei jeder Bewegung. Aber Ada würde ein gutes Opfer sein. Die letzte Schranke vor der endgültigen Übernahme der Stadt, aller Ländereien, der Handelswege und der Zolleinnahmen und Steuern! Noch ein paar Stunden!
Man brachte den Prunkwagen des Königs heran, einen breiten Wagenkorb mit zwei riesigen, verzierten Rädern und den beiden Schimmeln, die lustlos auf die Trensen bissen. Noval, einer der wenigen Vertrauten Obads, stieg auf den Wagen und nahm Zügel und Peitsche.
»Fesselt sie an den Wagen!« rief Obad.
Ada zitterte, aber sie schwieg und warf Obad einen haßerfüllten Blick zu. Man band sie an den Handgelenken und diese an die umlaufende Brüstung des Wagenkorbes. Sie zerrte an den Fesseln, mußte aber einsehen, daß die Lederschnüre hielten und bei jeder heftigen Bewegung nur tiefer ins Fleisch schnitten. Man hatte ihr kostbare Gewänder übergestreift, die man Plünderern weggenommen hatte.
Obad hob die Hände und rief: »Stoßt zum drittenmal in die Hörner! Wir brechen auf!«
Das letzte Signal tobte mit vielfältigem Nachhall über die Stadt hinweg. Die Dunklen Wächter bliesen sich fast die Lungen aus dem Leibe. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Dunklen Wächter ritten in langen Reihen vor und neben der Prozession einher. Je fünfzig übergelaufene Palastwächter ritten wiederum vor und hinter dem Zug der Wächter. In der Mitte der Schwarzgekleideten mahlten die Felgen der Räder über Sand, Kies und Steine.
Je länger der Zug wurde, desto mehr Urgoriten kamen aus den Häusern hervor und schlossen sich an. Der dumpfe Gesang der Wächter ließ sie fast willenlos weitergehen. Und im Takt dazu schlugen die riesigen Trommeln. Ein Mann schleppte sie auf dem Rücken, ein anderer schlug mit einem wuchtigen Schlegel auf die Kalbfelle.
»Mein Pferd!« befahl Obad.
Man brachte es ihm und half ihm in den Sattel. Er bot ein prächtiges Bild: Um seine Schultern wehte ein langer schwarzer Mantel mit kostbarer Stickerei. Er hing rechts und links über die Flanken des weißen Hengstes und war mit prächtigen Quasten verziert. Das lange, gekrümmte Schwert, mit dem Obad die Kehle Adas aufschlitzen würde, hing an der Seite des Sattels.
Dumpfer Chorgesang hallte durch die Gassen.
Wir flehen dich an, mächtiger Götze, dessen Namen zahlreich sind wie die Gipfel der Berge, sangen die Dunklen Wächter in langgezogenen Tönen. Dazwischen dröhnten die Schläge der Becken. Alle vier Schritte brach sich der gewaltige Schall an den Hauswänden. Er betäubte die Sinne der Menschen, vibrierte im Fleisch, rief eine Art Trance hervor.
Wir flehen dich an. Wir wissen, daß dein Hunger, o Götze,
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