Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Ereignissen, die zu ihres Vaters Tod und Adas Entführung und bevorstehender Opferung und ihrer aller Flucht aus Urgor geführt hatten. All die Gefühle legte sie in ihre Worte. Sie sprach leidenschaftlich und wütend und sehnsüchtig, junges Mädchen und zukünftige Königin zugleich. Und weil die Muttersprache immer die bessere Sprache für Gefühle ist, verfiel sie oftmals, ohne daß es ihr bewußt wurde, in den Raxos-Dialekt.
Dragon hörte ihr ernst zu. Seine Finger berührten dann und wann wie abwesend sein Amulett. Er unterbrach sie nur manchmal, um eine Frage zu stellen.
»Wann ist die Sonnenfinsternis?«
»Morgen am Mittag wird sich die Mondscheibe vor die Sonnenscheibe schieben.«
Sein besonderes Interesse galt dem finsteren Gott, den die Dunklen Wächter anbeteten.
»Sie nennen ihn den Gott der vielen Namen. Aber Obad nennt immer nur einen Namen: Cnossos …«
Und dann wurde ihr bewußt, daß Dragon sie zu verstehen schien, auch wenn sie nicht in der Alten Sprache redete, daß er sogar seine Fragen in ihrer Sprache stellte.
Es fiel ihr auf, weil er zwar die richtigen Worte verwendete, aber diese mit einem seltsamen Akzent von seinen Lippen kamen.
Er deutete auf sein Amulett und erklärte: »Es hilft mir zu lernen … es …« Er suchte nach Worten, um es ihr begreiflich zu machen. »Es erweitert meinen Verstand. Es bewahrt Dinge in meinem Gedächtnis …«
»Weiß es nichts von deinen verlorenen Erinnerungen?« fragte Amee.
»Nein, es ist so leer wie mein Kopf.«
Später gesellten sich Partho, Nabib, Damos und Kelwin, Elwena und ein halbes Dutzend Weise zu ihnen, und sie berieten bis tief in die Nacht die Lage.
Die Nacht verblaßte, die Dunkelheit wurde durchsichtig. Nebelfetzen trieben zwischen den Bäumen dahin und verbargen den leeren Tempel. Partho stand auf, entkleidete sich halb und ging hinaus zum Brunnen, um sich mit dem kalten Wasser zu waschen. Jetzt war es kühl. Das Feuer war ausgegangen. Nichts rührte sich. Partho hörte hinter sich Schritte, spuckte das Wasser aus und drehte sich um.
»Agrion! Mädchen … schon so früh?« fragte er verwundert.
Der letzte Tag hatte in seinem Denken eine Menge Veränderungen gebracht. Heute sah er Agrion nicht mehr als Sklavin König Alacs, sondern als Mädchen, das Abenteuer mit ihm geteilt hatte und vielleicht heute an seiner Seite sterben würde. Agrion hob die bloßen Schultern, verschränkte die Arme und rieb fröstelnd ihre Haut.
»Ich konnte nicht schlafen!« sagte sie.
»Ich schlief auch unruhig. Ich träumte allerlei wirres Zeug«, sagte Partho. »Ich träumte, dieser Dragon wäre wieder in seinen Schrein gestiegen, um weitere tausend Jahre zu schlafen.« Er grinste. »Ich werde nicht schlau aus ihm. Ein paar Stunden, und er redet unseren Dialekt, als ob er hier am Raxos geboren wäre, aber er weiß auch nicht mehr als wir alle.« Er schüttelte den Kopf. »Heute nacht mußten wir ihn mit aller Macht davon abhalten, nach Urgor zu reiten, um ein Wörtchen mit Obad zu reden, wie er sich ausdrückte. Bei allen Göttern, wie naiv kann einer sein und so alt werden? Und Amee …« Er brach verbittert ab. Dann straffte er sich. »Aber Mut scheint er zu haben. Er wird ihn heute brauchen.«
Sie nickte schweigend und tauchte die Hände tief in das kalte Wasser, während Partho seine Waffen gürtete, Bogen und Köcher umhängte und den eisernen Helm mit dem stattlichen Buschen aufsetzte.
Bitter sagte sie: »Da stehen wir nun, ein Gott, der seine Kräfte nicht kennt, ein Weiser, dessen Weisheit endet, weil Gewalt regiert, eine Prinzessin, die ihre Schwester retten will und nicht mehr hat als ein Pferd und einen scharfen Dolch, und ein tapferer Hauptmann, der es mit allen aufnehmen will.«
Partho lachte freudlos. »Gut gesagt, Mädchen«, meinte er und legte ihr tröstend seinen Arm um die Schultern. Sie lehnte sich einige Schritte lang an ihn und rieb ihre Wange an seiner Schulter.
»Sie werden uns alle töten, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte er heiser. »Aber sie werden sich die Nasen blutig stoßen dabei und noch lange daran denken.« Er zog sie an sich.
Genau in dem Moment, da die waagrechten Sonnenstrahlen über die Berggipfel schossen, bliesen sie in der Stadt die Luren und die Fanfaren. Die langen, dumpfen und die hellen, schmetternden Töne hallten über die Ebene und weckten die Menschen hier oben.
Partho beobachtete die kleine Schar von Brüdern und Schwestern, die mit Packeseln und allen wichtigen Aufzeichnungen und
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