Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
die Feuer noch nicht erloschen.«
»Urgor?« wiederholte der Schläfer und versuchte nachzudenken, aber das schien ihn zu erschrecken.
»Was sagt er?« wollte Partho wissen, aber niemand nahm sich die Zeit, ihm zu antworten.
»Jedenfalls nichts Bedrohliches, wie mir scheint«, meinte Nabib.
Der Schläfer blickte in ihre Richtung und lauschte. »Welche Sprache sprechen diese Männer?«
»Sie hat keinen Namen«, erklärte Damos. »Man kann sich bis weit in den Norden damit verständigen.
Der Dialekt von Urgor wird am ganzen Raxos gesprochen.«
Der Schläfer schüttelte verwirrt den Kopf. »Wo bin ich?«
»In meinem Reich«, sagte Amee rasch. »Von ganzem Herzen willkommen, aber in Gefahr … wie wir alle. Kannst du aufstehen?«
»Willst du uns nicht sagen, wer du bist?« bat Damos.
Der Schläfer, der sich unter Amees helfenden Armen aufgesetzt und die Beine über den Rand seiner Lagerstatt geschwungen hatte, hielt inne. Er wollte antworten und hielt erneut inne. Er schien nachzugrübeln, und ein verlorener Ausdruck kam in seine Augen. »Ich glaube … mein Name ist Dragon. In meinen Träumen war mein Name … Dragon. Daran erinnere ich mich. Aber selbst meine Träume beginnen mir zu entgleiten. Ich weiß nicht mehr, was vor meinen Träumen war … nur Feuer …«
Er wirkte plötzlich so verloren, daß Amee die Tränen in die Augen traten und Partho seine Feindseligkeit überwand und ihm zur Seite eilte, als er aufstehen wollte und vor Schwäche schwankend nach Halt suchte, den er vor allem an seinem goldenen Amulett zu finden schien, um das sich seine rechte Hand krallte.
Schließlich schüttelte er alle helfenden Hände ab und fragte keuchend vor Anstrengung: »Wie lange lag ich in meiner Überlebenszelle?«
Er deutete auf den Schrein. Er wartete nicht auf Antwort, sondern beugte sich über die gläserne Platte, deren Lichter erloschen waren. Er sagte etwas, das wie ein Fluch klang.
»Mehr als das Maximum«, murmelte er. »Mehr als hundertfünfzig Jahre …«
»Vor hundertfünfzig Jahren, sagen die Annalen meiner Brüder, standen Urgors Mauern schon über hundert Jahre lang, und Amees Vorfahren schufen ihr Königreich am Raxos«, erklärte Damos. »Die Welt war damals nicht anders als jetzt. Nein, deine … Überlebenszelle … stammt aus einer ganz anderen Zeit, Dragon. Wir glauben, daß du aus dem Goldenen Zeitalter stammst. Elwena weiß von uns allen am meisten darüber. Wie lange es wahrscheinlich her ist, daß Atlantis versank …«
»Atlantis«, wiederholte Dragon, und einen Atemzug lang schien es, als könne dieses Wort Erinnerungen wecken. Dann schüttelte er nur den Kopf und blickte auf Elwena.
»Wie lange?« fragte er heiser.
»Die Wahrheit mag nicht leicht zu ertragen sein«, begann sie unsicher.
»Wie lange, Elwena?«
»Zweitausend Jahre, vielleicht auch …« Sie hielt inne, als sie sah, daß Dragon auf seine Schlafstatt zurückgesunken war.
So weit man sehen konnte, bedeckte Nebel den Boden. Bäume und Bauwerke, Felsen und Rauchsäulen stachen daraus hervor. Der Himmel über dem Nebel war von einer furchtbaren Klarheit. Selbst die Sterne funkelten nicht, sondern standen starr und blickten erbarmungslos herunter. Als sich der Mond hinter den Bergen erhob, war er blutrot mit einem stechend gelben Rand. Eine kurze Zeit später, als das Gestirn ganz sichtbar wurde, schwebte ein gewaltiger Schatten daran vorbei. Ein Vampir? Ein Drache? Die Menschen, die dies sahen, schauderten und bedeckten ihre Augen.
Die Stadt war wie ein gewaltiges, kauerndes Tier, das im Fieber zuckte. Wenige Lichter brannten. Die leere Palastanlage überragte den Stadtwall mit ihren steinernen Türmen. Selbst das Feuer schien seine Kraft verloren zu haben. Es brannte unregelmäßig, die Flammen duckten sich.
Damos wußte, daß jeder Gedanke an Kampf ein Hirngespinst war. Die Dunklen Wächter waren mindestens dreihundert kampferprobte Männer. Auf ihrer Seite standen hundert oder mehr abtrünnige Palastwachen. Dazu kamen die aufgeputschten Massen der Stadtbevölkerung, die sie wie einen Schild vor sich hertreiben würden. Andererseits würde Ada hier im Tempel geopfert werden. Einer kleinen Gruppe entschlossener Kämpfer mochte es wohl gelingen, Ada zu befreien und Obad als Geisel zu nehmen. Das war Parthos Plan. Ein verzweifelter Plan.
Welche Kräfte der wiedererweckte Schläfer auch besitzen mochte, sie schlummerten tief in unerreichbaren Erinnerungen, welche die Zeit zurückbringen mochte. Aber Zeit gehörte
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