Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
wahrhaft gewaltig ist. Er ist so groß, o Götze, daß er die Sonne verschlingt! Sie aber, die Sonne, unser aller Leben, soll nicht verschwinden am Firmament. Sieh unser Opfer: eine Jungfrau von königlichem Blut. Gib uns die Sonne wieder!
Die dunklen, schleppenden Gesänge der Wächter hypnotisierten die Menge. Als die Spitze des Zuges das Stadttor erreichte, stockte die Prozession. Wie ein Rasender ritt Obad mit fliegendem Mantel den Zug entlang und hob den rechten Arm.
»Blast die Luren! Stoßt in die Fanfaren!« schrie er mit überkippender Stimme.
Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Jetzt schnitten Trommelschläge und die schmetternden Töne durch den dumpfen Gesang und das Geräusch von Schritten der vielen tausend Füße. Jeder in der Prozession war rettungslos im Bann dieses beschwörenden Lärms gefangen.
Nimm das Fieber von der Stadt, verehrungswürdiger Götze mit den vielen Namen! sangen die Männer.
Trommelschläge. Fanfarenstöße …
Gib uns den Regen, die Tränen des Himmels! Gib uns die Sonne wieder. Nimm unser Blutopfer gnädig an. Gib uns den Regen, nach dem alles lechzt …
Die Doppeltürme des Stadttores schienen zu erbeben, als der Zug unter ihnen hindurchzog. Inzwischen war die Menge der fanatisierten Stadtbewohner angewachsen. Tausende liefen neben der Prozession einher und schlossen sich ihr an. Der Zug wälzte sich wie der Koloß einer mythischen Schlange aus der Stadt und auf die breiteste Straße hinaus, die nach Westen führte. Unzählige Füße, bloß, in Sandalen, in Stiefeln, in Lumpen oder gepanzerte Beinschienen gehüllt, viele Pferdehufe wirbelten eine Staubwolke auf. Sie stand hinter dem Zug in der Luft und verdunkelte die Sonne. Es war ein heißer Morgen; es würde ein noch heißerer Tag werden.
Die Menschen begannen zu schwitzen. Der Schweiß lief über die Stirnen und sickerte in die Augen. Er troff zwischen den Schulterblättern und vermischte sich mit dem Staub. Der Geruch von Menschenschweiß mischte sich in den der Tiere, die unaufhörlich schnaubten und prusteten. Da war nicht das leiseste Lüftchen, das Sand fortblies und Kühlung brachte.
Gib uns Regen, o Gott der vielen Namen …!
Fanfarenstöße … dumpfer Chor … Trommelschläge …
Mit brennenden Augen und trockenen, aufgerissenen Lippen zogen die Menschen dahin. Mehr als fünfzehntausend waren es, die sich über die Ebene schoben.
»Noval!«
Ein einzelner Reiter galoppierte schnell neben der Prozession durch den Staubschleier. Der Mann im Sattel hielt den Kopf hoch erhoben und hatte den Stoff der Kapuze dergestalt um sein dunkles Gesicht geschlungen, daß nur die stechenden Augen hervorsahen. Er parierte das Pferd, als er den Wagen erreichte.
Der Lenker des Wagens drehte den Kopf. »Erster Diener?«
»Wir werden in einer guten Stunde den Ort der Opferung erreichen. Du bleibst mit dem Wagen stets in meiner Nähe. In etwas mehr als zwei Stunden wird der Dämon die Sonne fressen!«
Bruder Noval hob die Peitsche, als Ada plötzlich laut und deutlich sagte: »Hast du keine Furcht, Obad? Vor dem Zorn des schlafenden Gottes?«
»Sein Blut und das deine werden Urgor Regen bringen … und mir den Thron!«
Er lachte schrill auf, riß seinen weißen Hengst herum und galoppierte los. Er überholte den langen Zug, kam an den Trommeln und an den Bläsern vorbei an die Spitze des Zuges und ließ den Hengst tänzeln. Ein Gefühl großer Macht überkam den Götzenpriester. Und eine gewaltige Freude darüber, daß in kurzer Zeit sein Triumph vollkommen sein würde.
Partho zog den rechten Handschuh aus und griff nach dem Band des ausgebeulten Helmes. Er zog das Leder straff und stieß den Stachel der Schnalle durch das morsche Material. Parthos Gesicht, an beiden Seiten durch massive, eiserne Stege geschützt, war hart und verschlossen. Er kniff seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und sah sich langsam um.
»Ein verlorener Haufen!« sagte er leise zu sich.
Amee trug Köcher und Bogen und einen Schild. Im Gürtel steckte eine kurze Axt, deren Schneide frisch geschliffen war. So ähnlich war auch Nabib ausgerüstet. Damos hatte schützend den Arm um Agrion gelegt. So erwarteten sie im Schutz des Tempels die Heerschar des Gottes der vielen Namen. Fünf Narren, die auf mehr Glück hofften, als es geben konnte.
Nein, sechs Narren – Dragon gesellte sich zu ihnen. Und er hatte keine der Waffen genommen, die ihm Partho zugedacht hatte.
Partho wandte enttäuscht den Blick von Dragon und schaute
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