Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Stadttoren. Für einen Dunklen Wächter gab es in der Stadt kein Überleben.
»Ich brauche ein Pferd – und dann nichts wie weg!« ächzte Thuon haßerfüllt.
Schnell zog er die lange schwarze Kutte aus und schleuderte das Abzeichen des Gottes von sich.
»Verfluchter Cnossos!« flüsterte er. »Ich habe dem falschen Götzen gedient!«
Ein Blitz blendete ihn. Der Donner krachte und rollte mehrmals über der Stadt hin und her. Der kurze Lichtschimmer hatte genügt, um Thuon zu zeigen, daß sich der kleine Platz vor den Schenken und dem Freudenhaus geleert hatte. Der gesteinigte Mann lag regungslos da.
Langsam kletterte der Dunkle Wächter die Treppe hinunter. Sein heller Körper bildete einen scharfen Gegensatz zu dem dunklen und nassen Holz. Als der kalte Regen die Haut traf, wimmerte Thuon leise auf. Aber er tastete sich hinunter, verschwand im Schatten und wartete. Zwei Pferde waren vor dem Haus mit den roten Vorhängen an den Fenstern angebunden. Dort drüben lag ein Helm; er war halb voll Regenwasser und schaukelte bei jedem Windstoß hin und her. Ein zerbrochenes Schwert lag auf dem regennassen Pflaster.
Und dann entdeckte Thuon neben dem anderen Pferd den Mantel, der vom Sattel gefallen war. Er löste sich aus der Deckung, rannte über das Pflaster und rutschte nach einigen Schritten aus. Er schlug sich die Knie und die Ellbogen blutig und stöhnte auf. Kurze Zeit später saß der Helm auf seinem Kopf, hatte er sich in den Mantel gehüllt und ging mit dem Schwert in der Faust auf das Pferd zu.
Er stieg ächzend in den Sattel und löste die Zügel. Dann ritt er so leise wie möglich von dem leeren Platz weg und auf das nächste Stadttor zu. Es war das, durch das man, von der Ebene kommend, die Stadt Urgor betrat. Hier loderten in riesigen Eisenkörben zwei mächtige Feuer und erhellten die Zone vor den offenen Torflügeln. Palastwächter in feuchten Rüstungen und herunterhängenden Helmzieren standen in Gruppen herum.
Thuon faßte einen verzweifelten Entschluß. Er hämmerte dem Pferd die Absätze in die Flanken und galoppierte auf die Feuer zu.
»Gut Freund!« rief er, so laut er konnte. Die Bewußtlosigkeit griff nach ihm, als er schrie.
Ein Anführer zog den Mantel über den Kopf und verließ den Schutz des Daches. Er kam auf Thuon zu.
Mit einem Blick bemerkte der Mann, dessen Wunden wieder aufgebrochen waren, daß auf dem Sattel seines Tieres das Amulett des Königshauses von Urgor glänzte.
»Was gibt es?« fragte der Anführer. Seine Stimme war rauh; er war nicht mehr ganz nüchtern.
Thuon deutete nach hinten. »Sie hetzen zwanzig oder mehr Dunkle Wächter. Ich soll vor die Mauer reiten. Ihr schließt besser das Tor, damit sie nicht entfliehen können!«
»Gut! Wir haben verstanden!«
Der Anführer drehte sich um und schrie Befehle. Männer stürzten aus der Wachstube und schwangen die Torflügel herum. Thuon grüßte kurz und ritt schnell weiter. Er passierte das Stadttor, als es nur noch einen Spalt zwischen den eisenbeschlagenen Flügeln gab. Dann ritt er davon, wie von Furien gehetzt.
Er ritt eine Stunde lang, dann sank er schwer auf den Hals des erschöpften Pferdes. Thuon drehte sich um und blickte zurück nach Urgor.
Langsam stiegen die Wasser des Raxos. Der Himmel war dunkel und von zerrissenen Wolkenfetzen bedeckt.
Wohin sollte er fliehen? Die Jahre in der Stadt hatten ihn verweichlicht. Auf alle Fälle konnte er noch einige Zeit längs des Flusses reiten; vielleicht traf er andere Dunkle Wächter. Mit ihnen zusammen konnte man eine Bande bilden, die Reisende überfiel oder ihr Leben auf andere Weise führte. Thuon gab dem Pferd die Zügel frei und ritt weiter.
»Nach Osten! Ich werde jemanden treffen …«, murmelte er.
Ein Blitz schlug in der Nähe ein. Das Pferd scheute. Die Wunden und die zahllosen Aufschürfungen begannen wieder zu schmerzen. Der Schmerz kam und ging in scharfen Wellen und trieb dem Mann die Tränen aus den Augen. Der Regen hämmerte auf seinen Rücken; es war, als wären die Tropfen kleine Steine. Während es langsam dunkelte, verschwammen die Umrisse von Bäumen und Felsen hinter den Regenschleiern.
Dann kam die Nacht.
Etwa eine Stunde später machte Thuon halt. Er hatte einen kleinen Wald erreicht, der sich am Flußufer entlangzog. Hier rasteten oft die Bauern oder Waldarbeiter und gelegentlich auch die Handelskarawanen. Vor Thuons geröteten Augen erhellte sich ein Teil des Waldes. Ein viereckiger Kasten schien dort zu stehen. Das Pferd scheute
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