Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
um sie herum vorging. Vanadi zuckte zusammen, griff zum Dolch und sprang auf.
»Ein Tier! Es muß ein Raubtier sein!« sagte er heiser.
Seine Blicke suchten die freie Fläche vor dem Baum ab. Er stand lauernd und vorgebeugt da und hatte die Frau völlig vergessen. Thuon riß ein loderndes Scheit aus dem Feuer und schwenkte es im Kreis. Flammen und Funken stoben von der glühenden Spitze.
Zwischen den Felsen sprang ein Tier heraus. Es war so groß wie ein Kalb und hatte ein zottiges, dunkles Fell mit hellen Mustern.
»Ein Hund … ein Wolf!«
Thuon sprang auf den Hund los. Er schwenkte das Scheit durch die Luft und schlug zu. Das Tier, dessen Wolfsrachen aufgerissen war, besaß lange, schimmernde Zähne. Im Feuer leuchteten die Augen auf wie Glutstücke.
Das Tier unterlief das Holzscheit, warf sich auf den Hinterläufen herum und stieß ein furchtbares Knurren aus. Dann sprang es mit einem gewaltigen Satz auf Thuon zu. Die Fänge zielten nach der Kehle des abtrünnigen Götzendieners.
»Hilf mir!« schrie Thuon verzweifelt auf.
Vanadi hob den Dolch und sprang hinzu.
Sie hatten am ersten Abend lange miteinander gesprochen. Der Wein war herumgegangen, und alle, auch Dragon, verschliefen erschöpft den ganzen Tag. Jetzt, am zweiten Abend, nach dem Regen, nach dem Kampf des Drachen mit dem Geier, versammelten sie sich alle im großen Haus um die Glut des Feuers.
Es regnete bis in die frühen Morgenstunden. Dann tauchte da und dort ein blauer Fleck zwischen den dahintreibenden Wolken auf. In Urgor schien in dieser Nacht niemand geschlafen zu haben. Flackernder Feuerschein hatte den tiefhängenden Himmel erhellt, und donnernde Schläge und Schreie waren durch die Dunkelheit gehallt, bis das Tageslicht kam.
»Es ist die Nacht der Abrechnung«, hatte Nabib schaudernd gesagt, als Partho gekommen war, um die letzte Wache zu übernehmen.
Damos war in der Morgendämmerung aufgebrochen, um die Weisen aus dem Bergversteck zurückzuholen, nachdem Dragon versichert hatte, er könne seinen geflügelten Freund erneut rufen, wenn es in Urgor noch jemanden nach Kampf gelüstete.
Partho drängte zum Aufbruch, um in der Stadt nach dem Rechten zu sehen, aber Amee wollte warten, bis die Weisen zurück waren, um Ada in ihrer Obhut zu lassen und Damos als Berater an ihrer Seite zu haben.
Mehrmals am Vormittag öffnete der Himmel die Pforten. Der Regen schien alle Feuer in der Stadt erstickt zu haben, auch die in den Herzen; kein Rauch stieg mehr auf, kein Laut drang aus den Mauern.
Damos und die Weisen kamen am Mittag ins Dorf zurück.
Bruder Damos lächelte und umfaßte die kleine Schar der Freunde mit einem Blick, der zugleich Verständnis und echte Sorge ausdrückte.
»Ich habe andere Pläne und Vorstellungen. Aber wir sollten uns trotz des Regens jetzt schon entscheiden.«
Nabib hob beide Hände, kehrte Damos die Handflächen zu und meinte nachdenklich: »Seit vielen Jahren ziehe ich durch die Welt, und dort, woher ich komme …«
»Woher kommst du?« fragte Agrion.
»Man nennt das Land, in dem ich geboren wurde, Thinayda. Es ist sehr weit entfernt. Laßt mich ausreden: Ich hatte eine Karawane, die aus vielen Tieren und schweren, kostbaren Lasten bestand.
Obad, dessen Seele die Raben zerfleischen mögen, hat mir alles gestohlen. Nun finde ich es sowohl recht als auch billig, mein Eigentum wiederzubekommen – aber wie, schönste Prinzessin Amee, soll dies geschehen?«
Amee versicherte: »Wir werden einen Weg finden. Ich verspreche es.«
Amee berief eine Versammlung im großen Haus ein. Es galt, eine Rede vorzubereiten. Amee hatte vor, einen Statthalter einzusetzen, der die dringlichsten Dinge sofort organisieren konnte: die Beseitigung der Zerstörungen, das Begräbnis des Königs, den Aufbau einer neuen Palastwache, die Wiederherstellung von Recht und Ordnung.
Aber bevor die Versammlung begonnen hatte, hörten sie vor dem Haus Hufschlag. Partho kam in den Versammlungsraum gestürmt.
»Es ist Iwa. Und sie hat meinen Hengst eingefangen und mitgebracht.«
Behende schwang sich Iwa aus dem Sattel, lief auf Partho zu und umarmte ihn flüchtig. Die anderen, bis auf Dragon, kamen aus dem Haus und blieben unter dem Dach stehen.
»Es gibt viele Neuigkeiten!« sagte Iwa. »Diese verbrecherischen Götzendiener werden grün und blau geprügelt. Man stürmt ihre Häuser und versucht, den Tempel einzureißen. Ich muß sagen, der Drache war das richtige Mittel, die Stadt wieder zur Vernunft zu bringen. Wo ist der dürre
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