Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
abermals und wieherte. Als Thuon weiterritt, schälte sich undeutlich ein halb zerfallenes Holzhaus aus dem Dunkel. Zwei mächtige Bäume breiteten schützend ihre Äste über das morsche Dach.
»Hier kann ich schlafen!« sagte sich Thuon, lenkte das Pferd dorthin und band es am Türpfosten fest. Er stieg ächzend aus dem Sattel und sah sich um.
»Komm herein!« sagte eine Stimme aus dem Dunkel. »Ich bin arm, und du siehst aus, als wärest du bald tot!«
Thuon erschrak, kniff die Augen zusammen und sah einen Mann der Palastwache. Er war fast nackt und lag zitternd unter einer Decke. Vor ihm am Boden waren die Reste eines Feuers zu sehen.
»Ich bin Thuon«, sagte er. »Ich bin aus der Stadt geflohen.« Hinter der Hütte wieherte ein Pferd.
»Kein Feuer?«
»Es ist ausgegangen!« sagte der andere. »Ich bin Vanadi. Ich lief davon, bevor Partho mich auspeitschen lassen konnte.«
Sie sahen sich an.
Beide waren sie erschöpft und abgerissen, hungrig und ohne viel Besitz. Thuon kauerte sich vor dem Feuerrest nieder, blies in die Asche und entdeckte ein Stückchen Glut. Er riß Reisig aus dem Dach, schleppte ein paar Balken herbei und blies wieder auf die Glut. Bald darauf loderte ein Feuer hoch. Thuon riß sich den nassen Mantel vom Körper und hängte ihn in der Nähe des Feuers an einen Deckenbalken.
»Hast du etwas zu essen?« fragte er.
»Dort, in den Satteltaschen.«
Vanadi hatte einen schmutzigen Verband am Kopf, lange Risse an den Unterarmen; wohl von den Dornen des Gestrüpps. Thuon nahm seinem Pferd den Sattel ab, schleppte ihn in die Hütte.
»Dein Pferd ist versorgt?«
»Ja!« antwortete Vanadi.
Eine halbe Stunde später erwärmte das Feuer die beiden Männer. Sie tranken Wasser und aßen halb durchweichte Brotfladen. Die nassen Kleidungsstücke dampften. Teile der Rüstung lagen in der Hütte verstreut. Thuon holte einige Armvoll dürres Laub vom letzten Jahr und legte sich hin.
»Reiten wir zusammen?« fragte er leise.
Staub und Dampf drehten sich über den Flammen. Das trockene Holz brannte knisternd und prasselnd. Die Pferde waren draußen angepflockt und fraßen die Blätter von den Zweigen und feuchtes Gras.
»Wohin?« erkundigte sich Vanadi schläfrig.
»Osten.«
»Was gibt es dort?« murmelte der ehemalige Palastwächter.
»Vielleicht umherstreifende Nomaden. Oder Räuber. Alle anderen schlagen uns tot, wenn sie uns erkennen.«
»Ich reite mit«, sagte Vanadi müde.
Er schlief ein. Thuon wachte noch und horchte auf den strömenden Regen, auf die plätschernden Rinnsale, auf die Geräusche, die die Pferde machten, und auf die Töne des Waldes und des Flußufers.
Als der Blitz einen Felsen spaltete, erwachte Maratha.
Sie richtete sich langsam auf und lehnte sich gegen das Schaffell an der Wand. Sie fühlte sich erschöpft wie ein altes Weib. Sie tastete um sich.
Ihre Finger berührten den Krug, den ihr die Hirten gebracht hatten. Er war voller frischer, wohlriechender Milch. Sie fuhr mit den Fingerspitzen an dem Ton entlang, bis sie den Henkel fand. Sie hob den Krug hoch und trank in tiefen Zügen. Sie strich ihr Haar aus der Stirn und setzte sich auf.
Aus der Ecke hörte sie die tiefen Atemzüge Xandos'. Der Hund schlief noch – er war ebenso erschöpft wie sie.
Maratha stand auf und streckte einen Arm aus.
Das Bild, das sie vom Inneren und von der nahen Umgebung ihrer steinernen Hütte hatte, erschien undeutlich vor ihrem inneren Auge. Sie fühlte sich erschöpft, als sei sie es gewesen, die mit dem weißen Drachen gekämpft hatte. Langsam, mit kleinen Schritten, nahm sie den Weg von ihrem Lager, vorbei an dem kalten Herd, zur Tür. Schon bevor ihre Fingerspitzen die Felle berührten, die vor der Tür hingen, wußte sie, daß es noch immer regnete. Sie hörte den Regen und die strömenden Rinnsale, die den Südhang des kleinen Berges herunterrieselten. Tief atmete sie ein und aus – dann ließ sie den Vorhang wieder fallen.
Sie tastete sich zurück, umrundete den halbgemauerten Herd und blieb vor dem Lager stehen.
Maratha war blind.
Ihre erste Welt, die der fünf Sinne, war unvollkommen. Sie setzte sich aus Geräuschen und Gerüchen zusammen, aus den Umrissen und Oberflächen von Dingen, aus dem Geschmack des Essens und aus Eindrücken wie Wärme, Kälte, Anwesenheit von Tieren und Menschen – der Sinn der Augen fehlte ihr. Ein Hirte hatte ihr gesagt, sie besäße wunderschöne goldene Augen. Aber diese Augen sahen nichts. Seit ihrem fünfzehnten Jahr war sie
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