Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
einer Wache hier am Eingang abgesehen.
Er sah sich verwundert um. Wo war die Wache?
Die Wände phosphoreszierten leicht. In diesem wenigen Licht erkannten die großen Nachtaugen des Königs einen Vampir, dessen linke Schwinge ausgebreitet am Boden lag, die Klauen in den Fels gekrallt. Die Haut des Wesens war nicht schwarz, sondern grau und gefleckt, rötlicher Schaum war vor seinem Maul – er starb oder war schon tot. Der König kauerte sich nieder und stieß einen für Menschen unhörbaren Ruf aus.
Er erhielt keine Antwort …
Es gab keinen Zweifel, daß dieser Wächter vergiftet worden war. Er hatte entweder vergiftetes Fleisch gefressen oder vergiftetes Blut getrunken. Einige Schritte weiter fand der König den zweiten Wächter. Auch dieser regte sich nicht mehr.
Der König richtete sich drohend auf, spreizte die Krallen und sprang zwischen fahl leuchtenden Wänden tiefer in die Höhle hinein. Außer dieser Hauptöffnung besaß die Höhle eine Anzahl von Schächten und Kaminen, durch die verbrauchte Luft abziehen konnte. Eine andere Öffnung führte nach Osten und war durch einen langen, gewundenen Gang zu erreichen. Eine dritte endlich führte in großer Höhe aus dem Höhlensystem hinaus.
Der König der Vampire gelangte zu den ersten schlafenden Zü-ip. Sie hingen kopfunter an den Vorsprüngen der Felsen und hatten sich in ihre Flügel gewickelt. Hier oben wurden sie niemals von Menschen gestört – es war sehr schwierig, hier heraufzuklettern. Zudem flößte der düster drohende Anblick des Berges den Menschen der umliegenden Täler Furcht genug ein, daß sie diese Hänge und Höhlen mieden. Mochte sein, daß sich hin und wieder ein Adler oder ein Geier hierher verirrte – dann wurde er sehr schnell ein Opfer der Höhlenwächter, die das Blut des Tieres aussaugten und daraufhin in einen Rausch verfielen.
Die Menschen wagten es nur selten, die nähere Umgebung des schwarzen, heulenden Berges zu betreten. Für sie waren die Zü-ip Wesen, die in der Nacht kamen und gingen und Grauen verbreiteten.
Schon lange waren sie nicht mehr auf Raubzug geflogen – er sah es an den Knochen und den Fetzen von Schaf- und Ziegenfellen. Kein einziges lebendes Schaf befand sich mehr in der Höhle. Ein kräftiger Zü-ip konnte ein kleines Kind oder ein ausgewachsenes Schaf über weite Strecken transportieren.
Der König öffnete die Schwingen ein wenig. Dann griff seine Klaue in eine Hautfalte an seinem Bauch. Als sie wieder daraus hervorkam, war sie schwarz von einem feinen, glitzernden Pulver.
Das Traumpulver!
Die Schwinge holte aus, die Klauen öffneten sich langsam, und der Luftzug wehte das Pulver durch die Höhle. Es verteilte sich schnell in der abgestandenen Luft. Sechsmal tat er dies und entfachte zuletzt wahre Windstöße mit seinen Flügeln. Die ersten Vampire, die eine Spur des Pulvers in die Nasenlöcher bekamen, begannen sich zu bewegen.
Das Traumpulver wirkte bereits in sehr hoher Verdünnung. Es wurde aus den getrockneten und zerriebenen Blütenblättern der überaus seltenen Traumblume gewonnen, doch Cnossos, der seine Gestalt beliebig zu verwandeln imstande war, erzeugte es aus ein wenig Substanz seines Körpers. Menschen vermochte der ätherische Duft dieses verbrennenden Pulvers in tiefen Schlaf und Träume des unendlichen Glücks zu versetzen.
Wieder griff der König der Zü-ip in die Bauchfalte, streute das Pulver aus und entfachte mit wild schlagenden Schwingen einen Wind, der durch das Höhlensystem fuhr. Winzige Körnchen verirrten sich in die letzten und hintersten Winkel.
Ein Geräusch schwoll … ein mächtiger, vielkehliger Atemzug.
Sechshundert große Vampire wachten auf und bewegten sich. Zwölfhundert Flügel zuckten, und Krallen scharrten an den Felsen. Die Lider der großen Nachtaugen öffneten sich langsam. Vor den schwach leuchtenden Wänden zuckten die Silhouetten der unmenschlichen Soldaten von Cnossos’ Armee. Dann begannen sich ihre Flügel zu entfalten, und der Luftzug wirbelte die letzten Reste des Traumpulvers durch die Felsenhalle.
Ein Stamm der Zü-ip erwachte aus dem langen Schlaf.
In ihrer Mitte stand, hoch aufgerichtet, mit ausgebreiteten Schwingen und weit nach oben gestreckten Krallen, ihr König. Er stieß einen gellenden Schrei aus, der von den Felsen widerhallte und alle Gänge, Nischen, Höhlen und Arkaden der Großen Höhle erfüllte. Ein Mensch, der diesen Schrei miterlebte, hätte nicht mehr als ein dünnes, hilflos wirkendes Zirpen gehört, einen Ton,
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