Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
den echten Zainu in einer kleinen Höhle am Felsabsturz gefunden: Er kam heraus, als ihn Xando leicht in die Schulter gebissen hatte. Dann sah er Zanah, Zanah sah ihn.
Er rannte, als gelte es sein Leben.
Zainu lief zwischen zwei endlosen Reihen lachender Menschen entlang, die sich auf die Schenkel schlugen und nicht mehr beherrschen konnten. Sein gesamtes Ansehen zerbröckelte und löste sich auf. Er würde lange brauchen, bis er seine Stellung wieder gefestigt hatte.
Endlich war Zanahs Stunde gekommen. Kurz vor dem Zelt, in das sich Zainu hineinflüchtete, versetzte sie ihm einen derben Schlag und schrie: »Und ab heute hältst du diesen schwarzen Teufel von mir fern! Sonst prügle ich dich weich wie eine Filzdecke!«
Abermals brach die Menge in Gelächter aus.
Wenn es jemanden gab, der sich unendlich wohl fühlte, so war es Nabib. Er schwankte durch das Lager, an jedem Arm ein vollschlankes Mädchen, sprach auf sie ein, scherzte und traf endlich Iwa.
»Auch heute, liebste Freundin«, sagte er mühsam, »ist das Schicksal gegen dich! Ich fand, was ich suchte. Guten Wein, zukünftige Geschäftspartner. Musik auf ausgesuchten Instrumenten und … füllige Frauen.«
In dieser Nacht feierten sie das stolzeste Fest der neunundvierzig Tage.
Hans Kneifel
König der Vampire
Der kühle Abendwind strich durch das Gefieder des schwarzen Geiers. Der große, schwere Vogel strebte in geradem Flug auf den Berg zu, der vor ihm aufragte wie eine verwunschene Festung. Der Geier hielt die Schwingen weit geöffnet und den häßlichen Kopf nach vorn gereckt. In der Ferne leuchteten die Lagerfeuer, die er so unrühmlich verlassen mußte.
Dunkelheit nistete zwischen den Felsen und Klüften. Gegen den lohfarbenen Himmel des späten Abends hoben sich Umrisse von Felsbrücken, dunklen Kaminen und Steinpfeilern ab, die der Windschliff zu abenteuerlichen Formen gestaltet hatte. Eine düstere Drohung strömte von diesem Bergmassiv aus. An Zacken und Vorsprüngen hingen einzelne Nebelfetzen, auf denen Licht und Schatten spielten. Es roch durchdringend nach den weißen Ausscheidungen der Zü-ip.
Der Vogel steuerte im Zickzackflug auf einen Felsvorsprung zu. Dort schimmerten weiße Gebeine. Kleine und verkrüppelte Gewächse hatten hier Wurzeln schlagen können. Die Schwingen scharrten raschelnd darüber, als der Geier zwischen den Moospolstern landete.
Ein Geräusch kam auf. Es war ein leises Heulen, das auf und ab schwankte. Ein Summen folgte, wie von unsichtbaren Saiten. Der Wind strich in unregelmäßigen Stößen durch Löcher in den schwarzen Felsen und erzeugte diese Geräusche. In der Ferne, westlich des Ah’rath, wetterleuchtete es noch immer.
Vom Felsvorsprung bis zum Eingang der Großen Höhle verlief ein breites, zerklüftetes Felsband. Fast zweitausend Mannslängen tief lag die Ebene unter den scharfen Augen des Geiers.
Es ist Zeit, eines meiner Heere in Bewegung zu setzen!
Der Geier hockte ruhig da. Die wenigen Zü-ip, die nicht im Schlaf versunken waren, hatten sein Kommen nicht bemerkt. Der Vogel schien in sich versunken zu sein. Dann ging langsam eine erstaunliche Wandlung vor sich. Aus dem Geierschädel wurde der mausartige Kopf eines Vampirs mit langen weißen Zähnen. Die Krallen und Klauen verschwanden. Die schwarzen Federn verschmolzen zu einer ledrigen Haut, die schwarz wie die Nacht war. Nur die Schwungfedern verloren ihre weiße Farbe nicht; an den Flügelenden entstanden weiße Krallen mit langen weißen Nägeln.
Ein Zischen ertönte.
Dort, wo noch vor wenigen Augenblicken ein Geier über den Knochen gekauert hatte, entfaltete jetzt ein Vampir seine Schwingen. Die Spannweite der Flügel war gewaltig, über vier Mannslängen, der kurze, gedrungene Rumpf muskulös. Staub wirbelte hoch, als der Vampir die Schwingen schüttelte und die Krallen spreizte. Seine spitzen, großen Ohren richteten sich auf. Er war der größte Vampir, der jemals hier gelandet war – er war der König der Zü-ip.
Und nun, mein ergebenes Heer, erwache!
Der Riesenvampir legte die Schwingen eng an den Körper, was ein schleifendes, trockenes Geräusch erzeugte. Er sprang in einer Reihe von kleinen, unbeholfen wirkenden Sätzen zwischen den Felsbrocken dahin und gelangte zum Eingang der Großen Höhle. Die Vampire, deren Klugheit zwischen der von Menschen und Tieren lag, gehorchten seinen Befehlen. Sie fürchteten nichts und niemanden, wenn sie im Blutrausch waren. Jetzt aber schliefen alle sechshundert Untertanen, von
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