Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
der wie Zü-ip klang.
Sechshundert Vampirwesen hörten diesen gewaltigen Schrei.
Zuerst regten sich die Zü-ip in der domartigen Großen Höhle. Sie kamen zu sich und erkannten die Stimme ihres Königs. Sie antworteten, schwach erst, doch lauter mit erwachenden Lebensgeistern. Sie schwangen sich nach unten, drehten sich in der Luft und kamen auf die Beine zu stehen. Sie falteten die Flügel wieder ein, standen dichtgedrängt und zuckten im beginnenden Rausch.
Wieder erklang ein Schrei, der für Menschen unhörbar war.
Diesmal antwortete ein gewaltiger Chor schriller, erregter Stimmen. Obgleich sie auch im wachen Zustand fast einen halben Mond lang ohne Nahrung auskamen, wühlte nach dem langen Schlaf der Hunger in ihren Därmen. Und jetzt versprach ihnen ihr König Blut! Frisches Blut!
Wo? Wo? Wo? zirpten sie. Wann? Wann? Wann?
Um ihn herum hatte sich ein freier Raum gebildet, ein Kreis, in dessen Mitte er stand und die Flügel schwang.
Seine Krallen durchfuhren die Luft mit einem zischenden Ton. Die Vampire verstanden:
Ich verspreche euch Blut! Viel Blut! Warmes, frisches Blut von wohlgenährten Tieren und Menschen!
Blut! zirpten sechshundert erwachsene Vampire. Frisches Blut!
Das Traumpulver und das Versprechen frischen Blutes hatten die Zü-ip erregt. Sie bewegten sich unruhig, stießen einander mit den Schwingen und scharrten nervös auf dem Felsboden. Der Geruch von Blut würde sie noch mehr in Ekstase versetzen – aber noch war es nicht soweit.
Wo? Wo? Wo? zirpten einige besonders kräftige Männchen.
Im Süden. Auf der Hochfläche! erwiderte der König.
Auf der Hochfläche! zirpten die Vampire.
Cnossos wirbelte herum und wandte sich an den anderen Teil seiner Untertanen. Dieser Stamm hier und andere an verschiedenen Orten gehörten zu seinem Reich. Es waren Bewohner der Dunkelheit und Wesen, die im Schutz der Nacht kämpften und Blut saugten. Sie flogen nur in äußersten Notfällen im Tageslicht, denn die Sonne verbrannte ihre empfindlichen Häute.
Ihr aber sollt tun, was ich euch befehle! übermittelte der König.
Seine Untertanen verstanden einfache Befehle, und besonders gut verstanden sie, wenn diese Befehle an ein Versprechen gebunden waren.
Das Zirpen und Wimmern von sechshundert Vampiren drückte völlige Zustimmung und Gehorsam aus.
Ich fliege voraus! Der König deutete auf den Eingang, der in der betreffenden Richtung lag. Dann schwenkte er einen Flügel und deutete nach oben. Ihr alle werdet mir folgen! Ihr werdet über dem Lager kreisen und eure Opfer auswählen. Aber ihr werdet warten, bis ich euch den Befehl gebe!
Sie würden Blut trinken können!
Sie würden ihre nadelscharfen Zähne in die Adern der Menschen und Tiere bohren. Ihre pelzigen Sohlen traten so weich auf, faßten so weich zu, daß schlafende Opfer kaum etwas merkten. Die langen Zungen der Vampire sonderten ein Sekret ab, das verhinderte, daß das Blut ihrer Opfer gerann. So konnten sie in großer Schnelligkeit viel Blut saugen und lecken.
Sie würden Fleisch fressen können!
Nach dem Blut liebten sie warmes, dampfendes Fleisch am meisten. Sie zerrissen mit den Flügelkrallen die Haut der Menschen und Tiere, rissen die Wundränder auseinander und fraßen das Fleisch darunter, das warme Fleisch.
Ein Wispern, Zirpen und Wimmern ging durch die Massen der Vampire, die mit glühenden Augen die Große Höhle erfüllten. Sie kauerten neben- und hintereinander auf dem ansteigenden Boden, saßen in dichtgedrängten Reihen auf den Galerien der Felsen, hingen und hockten an Säulen, Vorsprüngen, in Spalten und kleinen Nischen. In ihrer Mitte stand der König, pechschwarz, mit leuchtenden Augen und leuchtenden Krallen. Er deutete einmal auf diesen, dann auf jenen seiner Untertanen, und seine Schilderungen der zu erwartenden Freuden waren aufreizend, erregend, viel verheißend …
Ihr sollt mir folgen! Ihr alle sollt über dem Lager schweben wie eine Nachtwolke! Niemand soll euch sehen, niemand soll überfallen werden – bis ich den Befehl durch die Nacht schreie!
Die Vampire, die dem südlichen Eingang am nächsten hockten, entfalteten die Schwingen und atmeten keuchend. Noch immer standen sie unter der aufreizenden Wirkung des Traumpulvers, das in feinsten Spuren durch die Höhle trieb. Der erste Vampir kroch über den schlüpfrigen Boden auf den Eingang zu; gierig sog er die frische Nachtluft ein. Zum Teil sagte der Instinkt dem Zü-ip, was er zu tun hatte, zum anderen, kleineren Teil kannte er die Befehle des
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