Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Königs. Und sie alle dürsteten nach Blut!
Halt! Keiner fliegt vor mir durch die Nacht! schrie Cnossos zirpend. Wartet ab, bis ich euch vorausgeflogen bin! Hört, was ich befehle!
Er schlug die Hügel und schwang sich zwei Manns großen hoch in die Luft. Dann schrie er in jenen charakteristischen Zirplauten, die von leisen, pfeifenden und wimmernden Tönen durchsetzt waren:
Ich habe Rache zu üben! Auch ihr habt Rache zu nehmen, denn es gibt dort unten Menschen, denen es gelingt, uns zu vergiften. Nehmt also Rache!
Ich fliege voraus. Ihr wartet über der Hochebene. Ich werde meine Rache nehmen, und wenn ich die Zelte der Menschen verlasse, dann werde ich euch einen Befehl geben. Dann greift an! Dann saugt das Blut! Dann freßt das warme Fleisch! Dann raubt die Schafe und Hammel, die Ziegen und die Menschenkinder.
Er schwieg und fuhr nach einer Weile fort: Wenn ihr mich nicht mehr sehen könnt, dürft ihr fliegen! Nicht eher. Ihr kennt den Weg? Und ihr kennt auch das Ziel! Jetzt gehe ich!
Er ließ sich wieder auf den Boden hinab und bewegte sich durch die dicke Schicht von Vampirkot zielstrebig dem südlichen Eingang zu. Scheu wichen die Wesen vor ihm zurück und bildeten eine gewundene Gasse.
Cnossos erreichte den Felsstollen, dessen Wände in fahlem Leuchten erglühten. Ein kalter Wind fuhr ihm entgegen, als er in kleinen Sprüngen durch den Stollen hastete. Knochen splitterten unter seinen Klauen. Schädel und Gebeine rollten umher, als er sie mit den spitzen Enden der ledernen Schwingen streifte. Dann sah er vor sich den Himmel und die Sterne. Er blieb stehen und schaute nach vorn, nach unten.
Ein gähnender Abgrund, mit grauem Nebel gefüllt, breitete sich aus. Das Winseln und Heulen des Windes war das einzige Geräusch, als sich Cnossos fallen ließ. Fünf Mannslängen tiefer spreizte er die riesigen Schwingen auseinander und flatterte auf das Ziel zu. Sein Flug glich nicht so sehr dem taumelnden Flug von Fledermäusen oder Zü-ip, sondern dem Gleiten und Schweben eines Reptils. Er kam schnell voran, und langsam schälten sich winzige Lichtpunkte aus der Dunkelheit. Es waren die Lagerfeuer der Söhne Nuaks.
Der Riesenvampir flog höher und höher.
Es war wichtig, daß keiner derjenigen, die dort unten, ein gewaltiges Fest feierten, ihn entdeckte. Ihn durften sie nicht sehen und auch nicht die rund sechshundert seiner Untertanen. Es würde ein Gemetzel geben, wenn sich die hungrigen und halb tollwütigen Vampire – denn nur aus diesem Grund mußten sie so lange kreisen: Sie sollten hungriger und erregter werden von Augenblick zu Augenblick! – auf das Lager der Unruhig Wandernden stürzten.
Als die Hälfte des Weges zurückgelegt war, verwandelte sich der Vampir nach und nach zurück in einen schwarzen Geier.
Er flog, während sich die Körperform änderte; aber er flog langsamer und in sehr großer Höhe. In kurzer Zeit hatte sich der Körper des Vampirkönigs in den eines Riesengeiers verwandelt.
Nur der Kehlkopf, die Organe, mit denen er sich mit den Zü-ip verständigen mußte, blieben unverändert.
Die Verwandlung war abgeschlossen. Ich habe, als ich floh, einige Teile von mir selbst zurückgelassen, dachte Cnossos.
Mit diesen Teilen, die sich in Schlangen und Ratten verwandelt hatten, stand der Geier in Verbindung. Er empfing ihre Gedanken und sah, was sie sahen. Es war nicht viel, aber er brauchte diese Kenntnisse, um zu wissen, wo sich Dragon, der Erzgegner, aufhielt, was diese beiden Prinzessinnen taten, was die Helfer dieses Mannes aus einer anderen Zeit unternahmen. Jetzt wußte er es – sie feierten das Fest mit.
Ich muß mich mit diesen Teilen vereinigen, ehe ich Dragon töte!
Er haßte Dragon nicht. Noch nicht. Er wußte aber, daß die Macht und Kraft Dragons wachsen würde. Diese Welt war sein Spielball. Nichts in ihr war seinen Kräften gewachsen. Nur die Vergangenheit barg ernstliche Gefahren. Und Dragon kam aus der Vergangenheit!
Der schwarze Geier bekam eine warme Luftströmung in die Nasenlöcher und schlug seinen ersten Kreis ein. Er hatte die Hochfläche erreicht. Unter sich sah er die Äste der Bäume, die von den Flammen großer Lagerfeuer erhellt wurden. Verschiedene Instrumente spielten eine heiße, wilde Musik, nach der sich viele Menschen drehten. Andere hockten da, aßen und tranken und erzählten sich Schauergeschichten.
Der Geier kreiste über dem Lager. Er roch Bratenduft, er hörte Gelächter und Lieder. Und hin und wieder sah er eines seiner Opfer: Nabib
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