Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
über Gras und feuchtes Moos. Nach wenigen Augenblicken schnellten die gewaltigen Muskeln der Hinterläufe den Tierkörper nach vorn. Drei weite Sätze, einer schneller und weiter als der andere, der vierte Satz.
Wie ein Pfeil, von der Bogensehne geschnellt, stürzte sich der Luchs auf den Hund. Das satte Tier erwachte nur, um zu sterben. Mit beiden Vordertatzen hielt der Luchs den Hund nieder, und die starken Kiefer schlossen sich knackend. Fell und Fleisch zerrissen, der Hund zuckte einmal und starb mit durchbissener Wirbelsäule.
Der Luchs richtete sich auf, sicherte nach allen Seiten und sah, daß er nur noch zwanzig Schritte von der Rückwand des Zeltes entfernt war. Langsam schlich er näher, duckte sich in den Schatten.
Eines der Opfer schnarchte. Von zwei anderen hörte der Luchs die Atemzüge. Ein Mädchen, vielleicht diese Ada, sprach leise im Schlaf. Plötzlich erstarrte das schwarze Tier und öffnete langsam den Rachen. Lange weiße Zähne wurden sichtbar.
Der Posten kam!
Schritte näherten sich von rechts. Am Rhythmus der Tritte merkte der Luchs, daß der Mann betrunken war. Er stolperte über einen Stein und fluchte leise, sah einen nicht vorhandenen Gegner und zog das Schwert.
Der Mann hielt an, führte ein paar wütende Schläge durch die Luft und stolperte. Dadurch kam er an der Längsseite des Zeltes vorbei und betrat den Weg, an dessen Ende der Luchs stand, der sich jetzt lautlos in die Dunkelheit neben den Fellen und Lederschichten des Zeltes drückte.
»Du verdammter Hund … Den Weibern schöne Augen … Wenn ich dich treffe … Du bist, bist ein … Feig … Feigling!« lallte der Mann.
In seiner linken Hand blitzte das lange, gebogene Schwert. Er fuchtelte damit herum, stolperte über seine eigenen Füße und blieb plötzlich stehen.
»Hier … bist du!« sagte er, sah in die Richtung des Luchses, erkannte etwas und machte drei Schritte nach vorn.
Der Luchs sprang fast senkrecht nach oben. Sein Gebiß zielte auf den ungeschützten Hals des Mannes. Im selben Augenblick drehte sich der Mann halb herum, und krachend schlossen sich die Fänge um das Eisen des Schwertes. Der Schmerz zuckte durch den Körper bis zur Schwanzspitze.
Der Luchs fiel zurück, seine Ohren legten sich an, er sprang trotz des tobenden Schmerzes geradeaus und erwischte den Oberarm des Mannes. Die langen Krallen zerkratzten das Lederwams, den Gürtel, rissen den Stoff in Streifen und verursachten lange Reißwunden an den Schenkeln und dem Brustkorb. Dann, als die Hinterläufe Halt fanden, schlug der Mann zu. Der Schlag traf die vordere Schulter des Luchses.
Gleichzeitig erreichten die Zähne den Hals des Mannes. Die Kiefer schlossen sich.
Tier und Mensch fielen zu Boden. Das Schwert glitt durch das Gras fort, das Blut aus der Schulterwunde vermischte sich mit dem der Halsschlagader. Der Mann starb, ohne noch ein Wort zu sagen.
Der Luchs sprang vom Weg hinunter, drückte sich eng an das Gästezelt und wartete, bis sich langsam, von innen nach außen, die Wunde geschlossen hatte. Dies mußte schnell geschehen, denn Blut war ebenso Körpersubstanz wie eine Feder, ein Stück Fleisch oder ein Stück Kleidung.
Endlich war das Fell wieder schwarz, die klaffende Wunde geschlossen, Muskeln und Sehnen wieder zusammengewachsen.
Der Luchs schlich um das Zelt herum, verharrte dort und wartete. Er witterte.
Ja. Hier schliefen Dragon und Amee. Der Luchs zog die Lefzen nach hinten, fauchte fast unhörbar und begann abermals, seine Gestalt zu ändern.
Schließlich war es ein großer, breitschultriger Mann, der in die Tasche seiner Hose griff und dort eine Handvoll Traumpulver hervorholte. Eine Hand schob sich durch den Zeltvorhang, näherte sich der Glut der Feuerschale und öffnete sich. Traumpulver fiel in die Glut und verdampfte langsam. Der Mann huschte ans andere Ende des Zeltes, schlug dort vorsichtig den Vorhang zurück und streute eine zweite Handvoll des schwarzen Pulvers auf die Glut.
Ein schwaches Zischen und Brodeln war zu hören, dann durchzog ein weißlicher Nebel das Zelt. Schon die nächsten Atemzüge bewiesen, daß alle im Zelt – Dragon und Amee, Agrion und Partho, Ada, Iwa und Nabib – in tiefstem Schlaf lagen. Ihre Träume waren der Wirklichkeit weit überlegen und lockten jeden in sein persönliches Paradies. Der Mann kicherte unhörbar, ging zurück zum anderen Ende des Zeltes und schlug den Vorhang weit zurück.
Vor ihm lag, wehrlos und schlafend, Dragon.
Cnossos’ Hand streckte sich nach Dragons
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