Drahtzieher - Knobels siebter Fall
plötzlich listig vergnügt in den Raum.
»Nein«, bekannte Marie.
»Anne van Eyck wird an ThyssenKrupp schreiben«, bestimmte er. »Der Brief wird von seinem eigentlichen Adressaten verstanden werden«, war er sich sicher. Er kicherte und drehte seine Skizze um. Marie sah, dass er handschriftlich etwas ausgearbeitet hatte.
»Anne van Eyck sollte den Brief an Liekes Kollegin im Vorstandssekretariat richten«, empfahl er. »Man kann an die berufliche Nähe zwischen den beiden Damen gut anknüpfen. Das Schreiben muss ja einerseits unauffällig sein, andererseits den eigentlichen Adressaten aufschrecken. Verstehen Sie?«
Marie antwortete nicht.
»Hören Sie zu!«, befahl Wanninger. Er wischte mit dem Handrücken Spucke aus seinen Mundwinkeln.
»Sehr geehrte Frau Daschek«, begann er säuselnd, stockte, überlegte kurz und verbesserte sich dann: »Liebe Frau Daschek, meine Schwester Lieke hat mir oft von Ihnen erzählt. Persönlich haben wir uns leider nie kennengelernt, aber ich weiß von Lieke, dass Sie wie meine Schwester eine äußerst zuverlässige und liebenswürdige Frau sein müssen. Sie werden sich denken können, dass ich den Verlust Liekes noch nicht verwinden kann. Zu lebhaft ist die Erinnerung an meine geliebte Schwester, zu nah auch noch ihr Tod, der mein Leben verändert hat. Der Hof, auf dem Lieke gemeinsam mit mir und meinem Mann gelebt hat und der – wenn ich das so sagen darf – unser gemeinsames Paradies war, wirkt ohne Lieke verwaist. Sie war, mehr als es mir zu ihren Lebzeiten bewusst war, so etwas wie das Zentrum unserer kleinen Gemeinschaft, die sich aus der Hektik des Alltags zurückgezogen und auf dem Land ihre private Welt gefunden hatte. Mein Mann und ich haben uns lange nicht überwinden können, Liekes Sachen zu ordnen. Erst jetzt haben wir damit begonnen und dabei eine Reihe von Unterlagen gefunden, die möglicherweise mit ThyssenKrupp zu tun haben. Wegen des Umfangs habe ich die Dokumente nicht direkt gesandt. Bitte seien Sie so lieb und geben diesen Brief in den Umlauf, damit wir klären können, welche Unterlagen in das Unternehmen zurückgehen sollen. Alles andere würde ich gern behalten, denn ich erkenne in allem, was Lieke hinterlassen hat, ein Erinnerungsstück, das ich gern behalten möchte. So sind selbst ihre handschriftlichen Aufzeichnungen von Bedeutung für mich. Vielleicht reicht es aus, wenn ich diesbezüglich lediglich Fotokopien zurücksende und die Originale behalte. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Dokumente:
· ein Elba-Ordner mit gesammelten Artikeln über
sogenannte seltene Erden,
· handschriftliche Vermerke Liekes über die selte-
nen Erden und Daten und Namen von Personen,
· vielleicht Geschäftspartner oder Ähnliches,
· diverse Landkarten von der chinesischen Provinz
Jiangxi,
· ein Prospekt der Villa Wolff im niedersächsischen
Bomlitz,
· von Lieke geschriebene Kostenvoranschläge zu
einer Hochzeit Drauschner.
Ich bitte höflich um Rückmeldung und grüße Sie herzlich,
Ihre Anne van Eyck.«
Wanninger lächelte verzückt.
»Das ist Ihre Strategie, Herr Wanninger?«, fragte Marie ungläubig. »Ein Brief, der den Täter locken soll? Glauben Sie ernsthaft, dass wir so zum Erfolg kommen?«
»Ich schreibe meistens solche Briefe«, erwiderte er stolz und lehnte sich behaglich zurück. »Viele meiner großen Storys nehmen ihren Anfang mit einem Brief, mit dem ich – oder für mich eine Marionette – in das gegnerische Lager eindringe, höflich und etwas devot, ein wenig verschüchtert und hilfsbereit, unsicher und bittend. Sie glauben gar nicht, wie oft das funktioniert und wie bereitwillig ich Auskünfte von Menschen erhalte, die mich gar nicht kennen. Oder sie vermitteln mir Kontakte zu dem Menschen, an den ich eigentlich heranwill: an meine Zielperson.«
»Aha! – Und bei einer derart komplexen Geschichte, bei der von Ihnen vermuteten geheimbundähnlichen Struktur, die in Ihrer Fantasie bei ThyssenKrupp wuchert, funktioniert das ebenfalls?«
Marie lächelte amüsiert.
»Wir werden es versuchen, und Sie werden das Ergebnis sehen«, gab sich Wanninger optimistisch. »Die Provinz Jiangxi gilt als das chinesische Mekka für seltene Erden«, belehrte er.
»Und wenn man seitens des Unternehmens artig für den Brief dankt und um Rückgabe aller Unterlagen bittet? Oder noch schlimmer: Man antwortet, dass man mit diesen Dingen nichts anzufangen wisse und Anne van Eyck alles behalten könne?«, wollte Marie wissen.
»Dann wäre es
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