Drahtzieher - Knobels siebter Fall
beruflich zu einem auswärtigen Termin. Marie und er hatten verabredet, dass sie mit dem Journalisten telefonieren sollte. Doch Wanninger bestand darauf, dass Marie ihn persönlich aufsuchte, und sie nahm direkt nach Schulschluss die Gelegenheit wahr, diesen eigensinnigen Mann zu besuchen, über den sie zwischenzeitlich im Internet mehr erfahren hatte. An dem Journalisten schieden sich die Geister, und es fiel auf, dass auffallend viele Internetnutzer ihre Meinung über ihn äußerten, die zumeist entweder sehr negativ und abwertend oder bewundernd und lobend ausfielen. Der Journalist bewegte sich in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zwischen diesen Polen, sondern er galt entweder als mieser Schnüffler oder als wertvoller Aufklärer. In den letzten Jahren schrieben nur noch wenige etwas über ihn, weil Wanninger nicht mehr so häufig mit Artikeln in den Printmedien präsent war wie in früheren Zeiten.
Marie stieg die Treppen bis zu seinem Dachgeschossbüro hoch. Er rief sie von innen herein, als sie abwartend an die schlichte weiße Spanplattentür klopfte, die direkt in einen hohen Raum führte, der an allen Seiten mit Wandregalen bestückt war, in denen sich eine ungeordnete Masse von Büchern und losen Stapeln gesammelter Papiere verteilte. Wanninger selbst saß an einem in Raummitte platzierten Schreibtisch, der mit Zetteln, Broschüren und einer Menge Zeitungen übersät war, die teils gefaltet, teils aufgeschlagen, kreuz und quer übereinander lagen. Wanninger hatte nichts von der behäbigen Eleganz, die er mit seinem weißen Anzug verkörpert hatte. Er trug eine ausgeleierte Jeanshose und ein graues T-Shirt, das sich über seinen Bauch wölbte, der vor die Tischplatte gepresst war. Wanninger war unrasiert; es roch nach Schweiß – und nach Alkohol. Marie bemerkte dies erst, als sie sich ihm näherte und zugleich seine glasigen Augen bemerkte.
»Enttäuscht, Frau Lehrerin?«, gluckste er provokant. »Die Arbeit wird mir leider nicht vorgegeben, so wie es bei Ihnen der Fall ist. Ich muss mir die Arbeit erarbeiten. Jeden Tag aufs Neue. Jede Story muss entdeckt werden. Das heißt, immer dran sein zu müssen. Bei mir gibt es keinen Schulschluss, Frau Schwarz.«
Marie antwortete nicht. Sie entfernte sich etwas von Wanninger und trat an eines der hohen Regale. Ihre Blicke wanderten ziellos über die gefüllten Fächer. Dann erregte ein Ausdruck aus dem Computer ihre Aufmerksamkeit, den Wanninger mit Heftzwecken an ein Regal befestigt hatte: ›Skandale von gestern – so leben ihre Akteure heute.‹ Marie sah sich fragend um.
»Ist nur ein Entwurf«, grunzte er, »der Titel muss noch greifbarer werden, aber ich werde eine Serie zu diesem Thema machen. Es gibt so viele Geschichten, die einst die Öffentlichkeit bewegten. Man will doch wissen, was aus denen geworden ist, deren Namen damals für die großen Skandale standen. Ich recherchiere schon seit Monaten. – Es wird ein Renner, da bin ich mir sicher. Große und kleine Namen, die wieder auf die Bühne müssen.«
Er vertiefte sich in die Lektüre eines Zeitungsartikels, der vor ihm lag.
Marie sah ihn mitleidig an. Wanninger wollte krampfhaft an seine frühere Popularität anknüpfen. Er griff die alten Geschichten auf, wollte wie ein alternder Star das frühere Repertoire aufwärmen. Er klammerte sich an die Hoffnung, dass jenes, was einmal funktioniert hatte, sich wiederholen und zum zweiten Erfolg verwandeln ließe.
»Sagen Sie mir ruhig, dass ich eine bedauernswerte Gestalt bin«, sagte er plötzlich. »Ich weiß doch, was Sie denken. Und ich weiß, wie fremd Ihnen meine Welt sein muss. An Ihrer Stelle würde ich genauso denken. – Sie sind eine attraktive Frau, Frau Schwarz«, sagte er plötzlich. »Richtig sexy!«
Er sah kurz auf und lächelte unbeholfen. Sein aufgedunsenes Gesicht glänzte im Licht der alten Schreibtischlampe.
»Sind Sie schon lange mit diesem Anwalt zusammen?«, fragte er. »Es geht mich nichts an, ich weiß. Aber ich frage immer nur Sachen, die mich nichts angehen. Das ist mein Beruf.« Er lachte heiser. »Wohl etwas empfindlich, was? Sie dürfen nicht so zimperlich sein, Frau Schwarz. Wenn Ihnen jemand sagt, dass Sie eine hübsche Frau sind, dann bejahen Sie das bitte und ziehen sich am besten aus, um sich zu zeigen. Was soll denn diese Verlogenheit? Sie hören doch gern, was ich sage. – Wäre auch eine Idee: Eine Reihe über Sex und Lüge. Knallige Bilder, saftige Storys. Alle lesen das gern. Ich liebe alles, was
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