Drahtzieher - Knobels siebter Fall
Hause.
Stephan rechnete die bisher angefallenen Stunden zusammen.
»Ich kann mich nicht entsinnen, an einem Fall nur damit verdient zu haben, dass ich mich lediglich mit der Mandantschaft oder einem Journalisten unterhalte, ohne dass es auch nur einmal um eine rechtliche Frage ging. Anne van Eyck braucht keinen Anwalt. Ich habe es ihr bereits ganz zu Anfang gesagt.«
Marie spürte seine unterschwellige Frustration.
»Aber du verdienst doch gut daran«, tastete sie sich vor. »Bis jetzt ist es recht leicht verdientes Geld, und das tut im Moment einfach gut. Im Herzen bist du doch über jeden Fall froh, den du nicht lösen musst«, meinte sie liebevoll.
Stephan antwortete nicht. Marie wusste, dass er sich sorgte, nach dem Ausscheiden aus der früheren Kanzlei nicht richtig wirtschaftlich Fuß zu fassen. Einige der insgesamt wenigen Großkanzleien expandierten und mehrten ihren Reichtum. Im Gegensatz dazu gab es die immer zahlreicher werdenden Klein- und Einzelkanzleien, die oft keinen Ertrag abwarfen und nach kurzer Zeit wieder geschlossen werden mussten. Die auf den Markt drängenden Scharen von jungen Anwältinnen und Anwälten fanden keine Beschäftigung, die sie ernährte. Sie arbeiteten entweder zu Dumpingpreisen bei extremer Arbeitsbelastung in den Großkanzleien, oder sie scheiterten bei dem verzweifelten Versuch, sich mit einer eigenen Kanzlei zu behaupten.
»Es war richtig, Hübenthal und Löffke den Rücken zu kehren«, sagte Marie in die Stille. Sie setzte sich auf seinen Schoß.
»Du entscheidest einfach irgendwann, was für dich das Richtige ist«, sagte sie leise. »Ich verdiene doch, du hast keinen Druck.«
Sie umarmte ihn und streichelte sein Haar.
»Es ist keine Frage der Ehre, wer was verdient und was nicht«, flüsterte sie.
»Ich bin im Moment so etwas wie ein Privatdetektiv, der mit einem schmierigen Journalisten den großen Unbekannten bei ThyssenKrupp sucht, der nicht weniger macht, als seltene Erden jenseits der offiziellen Wege nach Deutschland zu holen und natürlich vor keinem Mord zurückschreckt. Es scheint so grotesk, Marie. Manchmal glaube ich, mich selbst auslachen zu müssen. Verstehst du das?«
Natürlich verstand sie. Sie löste sich von ihm und holte aus der Küche eine Flasche Wein. Es gab Tage, an denen das Leben nur dadurch weit und schön wurde, dass man sich auf die Liebe besann. Marie fühlte, dass Zweifel ihn nicht aus einer bloßen Missstimmung heraus hadern ließen. Die Zweifel waren grundsätzlicher Art, wucherten in verschiedene Richtungen, hinterfragten, ob er sich überhaupt für einen Beruf entschieden hatte, der ihn jemals erfüllen konnte.
Marie kannte seine Gedanken, die ihn in letzter Zeit immer häufiger quälten. Sie malte streichelnd ihre Welt in sein Gesicht, öffnete sein Hemd, zog ihr eigenes T-Shirt über den Kopf, ertastete und küsste ihn, ließ dem süßen Schweigen seinen Raum, weckte die Sinne, die belebt werden wollten, tauschte das Licht gegen eine flackernde Kerze. Da war sie, die Welt, die nichts zu stören vermochte, sich zitternd in den Schatten verlor, die im Schein der Kerze monströs und doch vertraut auf die Wand geworfen wurde. Sie liebten sich. Das Glück war ohne Girlanden, einfach und klar.
9
In den nächsten Tagen tat sich nichts. Wanninger erkundigte sich jeden Mittag und jeden Abend telefonisch bei Stephan, ob Anne van Eyck eine Antwort auf ihren Brief erhalten oder sich jemand bei ihr gemeldet habe. Stephan verneinte und wiederholte turnusmäßig, dass er sich sofort bei Wanninger melden werde, sobald er etwas höre. Der Journalist wirkte nervös. Seine Stimme war zittrig, er redete hastig und brach die Telefonate mit Stephan abrupt ab, nachdem er wieder vertröstet worden war. Marie mutmaßte, dass Wanninger unter Alkoholeinfluss stand und zwanghaft an seiner Theorie festhielt, die ihm die ersehnte große Story versprach.
Doch einige Tage später, am Samstag, dem 19. Mai, erhielt Anne van Eyck tatsächlich eine Antwort von ThyssenKrupp. Der Vorstandsvorsitzende Dr. Fyhre bedankte sich in einem persönlichen Brief für ihre Anfrage. Dr. Fyhre schrieb, dass er sich ohne weitere Prüfung der Unterlagen sicher sei, dass die in Liekes Nachlass gefundenen Dokumente nicht aus dem Unternehmen stammten und vollständig bei Anne van Eyck verbleiben könnten. Zweifellos seien die seltenen Erden in vielen Unternehmensbranchen und auch bei ThyssenKrupp ein aktuelles Thema, doch handele es sich bei den bei Lieke gefundenen
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