Drahtzieher - Knobels siebter Fall
ein kleines anderes Leben.«
Seuter verstummte. Die Erinnerung hatte in ihm eine Poesie geweckt, die man ihm nicht zutraute.
»Was geschah am Unfalltag?«, fragte Stephan nach einer Weile.
»Ich hatte nach unserem Wochenende in Dorsten im Dortmunder Norden eine kleine Wohnung angemietet. Nichts Besonderes, einfach nur zwei Zimmer, Küche und Bad. Ganz in der Nähe dieser Tankstelle an der Bornstraße, an der ich schon seit Jahren tanke, wenn ich von meinem Haus im Kaiserviertel, was ich dort mit meiner Familie besitze, zu meiner Firma in Derne fahre. Die kleine Wohnung war ein erster Schritt. Ich wollte eine Rückzugsmöglichkeit haben. Es sollte nicht für immer sein, eher nur ein Provisorium. Ich hatte mich schon ein bisschen auf den Weg in ein anderes Leben gemacht, verstehen Sie? Darum habe ich auch keine teuren Einrichtungsgegenstände gekauft. Nur das Nötigste, und das billig. Meine Frau wusste davon nichts. Ich habe mich in der Folgezeit häufiger mit Lieke dort getroffen, doch immer nur für Stunden. Wir waren in dieser Wohnung nicht ein einziges Mal über Nacht zusammen. Die Wohnung war Lieke zu dunkel, zu kalt, die Wohngegend zu grau und deprimierend, als dass sie sich dort wirklich wohlgefühlt hätte. Auf den Hof nach Dorsten bin ich wiederum nicht gefahren. Es ergab sich nicht. Der Weg dorthin ist weit, verschlingt fast eine Stunde und ging von unserer gemeinsamen Zeit ab. Ich wollte mir keine Alibis besorgen müssen. Unsere Beziehung sollte geheim bleiben, was natürlich auch Lieke nicht verborgen blieb. Sie fragte, ob ich endlich meine Frau von unserer Beziehung und darüber informiert hätte, dass ich mich scheiden lassen möchte. Diese Fragen musste ich verneinen, und ich weiß, dass ich feige war. Irgendwie schien nun plötzlich doch alles anders. Auf der einen Seite wollte ich Lieke – und auf der anderen Seite sah ich keine Notwendigkeit, meine Frau, insbesondere aber meine Kinder, zu verlassen. Wir hätten auch so miteinander leben können, zumal Lieke und ich beruflich derart eingespannt waren, dass es unrealistisch erschien, viel Zeit miteinander verbringen zu können. Ich arbeite regelmäßig auch an Wochenenden, und daran wird sich nichts ändern. Das kleine ganz neue Leben in Dorsten wirkte in der Rückschau plötzlich wie ein paradiesischer Ausflug in eine heile Welt, die aber eben doch nicht der Wirklichkeit entsprach, in der Lieke, vor allem aber auch ich, lebte. Ich war also letztlich entschlossen, alles so zu belassen, wie es war, und erwog auch, die schäbige kleine Wohnung in der Nordstadt gegen ein besseres Domizil zu tauschen, in dem sich Lieke bei ihren Besuchen wohler gefühlt hätte. Sie müssen mir nicht erklären, dass ich feige war. Ich weiß es.
An ihrem letzten Tag kam sie von ThyssenKrupp in Essen zu meiner kleinen Wohnung in die Nordstadt gefahren. Sie parkte das Auto an der Bornstraße, etwa 500 Meter von der Tankstelle entfernt. Von dort sind es zu meiner Wohnung noch rund 100 Meter. Die Wohnung liegt in einer Seitenstraße. Wir schliefen miteinander, dann aßen und tranken wir etwas. Aber nur wenig. Jeder trank höchstens ein Glas Weißwein. Gegen 21 Uhr wollte Lieke fahren. Wir küssten uns zum Abschied. Ich hatte ihr bis dahin noch nicht gesagt, was ich mir für diesen Abend vorgenommen hatte: Ich wollte ihr sagen, dass ich mich der Kinder wegen nicht von meiner Frau trennen würde. Lieke lief die Treppen hinunter, aber nicht so beschwingt wie sonst. Sie hatte gemerkt, dass etwas zwischen uns stand und unausgesprochen geblieben war. Sie war gerade ein paar Minuten aus dem Haus, als sie wieder klingelte. Ich war im Begriff, mich anzuziehen, um zu meinem Haus ins Kaiserviertel zu fahren. Als ich öffnete, rief sie durchs Treppenhaus, dass das Auto verdreckt sei. Ich sollte unbedingt kommen. Das habe ich dann gemacht. Wir sahen, dass überall irgendein weißes Zeug wie Regen niedergegangen war. Autos, Bäume, überall lag so etwas wie eine Staubschicht. Mal mehr, mal weniger. Ich ging mit ihr zu ihrem Auto, und ich habe mit dem Zeigefinger probiert, ob sich der Dreck von der Scheibe löste. Das ging nicht richtig. Wir benötigten natürlich etwas, womit man wischen konnte. Mit dem Scheibenwischer funktionierte es nicht, weil die Gefahr bestand, dass die Scheiben verkratzt wurden. Also bin ich mit ihr in ihrem Auto zu der Tankstelle gefahren, wo mir der Tankwart einen frisch verpackten Fensterwischer aus der Werkstatt holte. Der war eigentlich nicht für den Verkauf
Weitere Kostenlose Bücher