Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Weder die Karten noch die Anreise bzw. Übernachtung. Damit ist, wenn ich ganz ehrlich bin, mein Selbstversuch eigentlich gescheitert. Natürlich versuche ich mir einzureden, dass das ja irgendwie auch eine dienstliche Reise war, da ich zwei Texte für den Südkurier über einige der Konzerte geschrieben habe. Aber wenn ich ganz konsequent wäre, hätte ich in diesem Jahr ablehnen müssen.
Und die nächste Sünde steht schon an. Ich singe in einem Konstanzer Chor (den monatlichen Mitgliedsbeitrag habe ich allerdings ordnungsgemäß eingerechnet). Im kommenden Jahr wird der Chor den »Sonnengesang« der Komponistin Sofia Gubaidulina aufführen. Dieses Werk wird kommenden Samstag gespielt – in Weingarten. Ich habe recherchiert und gerechnet, aber wenn ich erneut ehrlich wäre, dürfte ich nicht hinfahren. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauert allein die Fahrt dorthin und wieder zurück fünf Stunden und sprengt das Budget für öffentlichen Nahverkehr im Regelsatz. Der Preis der Konzertkarte wäre noch drin – so gerade eben zumindest. Also: Wenn Kultur, dann nur vor der Haustür. Morgen gehe ich in Konstanz ins Theater. Da komme ich mit dem Rad hin und mit Sozialpass würde ich Ermäßigung auf die Eintrittskarte bekommen. Aber mehr als höchstens einmal im Monat geht das auch nicht. Kultur ist für alle da? Klar, rein theoretisch schon.
Nicht bloß eine Frage des Geldes
Ich hatte nicht geahnt, dass dieser Selbstversuch mir die Tür in eine traurige, absurde Parallelwelt aufstoßen würde. Eine Welt, die nach Meinung vieler Deutscher nur von Säufern, Faulenzern und Sozialbetrügern bevölkert ist. Ich habe gelernt – und dieses Lernen hat mich bis in den Schlaf verfolgt – wie falsch diese Meinung ist. 70 betroffene Menschen haben sich bei mir gemeldet, zehn von ihnen habe ich getroffen, sie haben schonungslos offen mit mir über ihr Leben geredet. Alles Einzelfälle, gewiss. Schlaglichter auf Ungerechtigkeiten am schummrigen Rand des Sozialstaates.
Und ein blinder Fleck. Denn natürlich hat sich niemand bei mir gemeldet, der die Sozialsysteme ausnutzt. Auch diese Hartz-IV-Empfänger gibt es. In der öffentlichen Debatte aber halten sie oft als negatives Abziehbild für alle her. Gleichzeitig ist der Ton der Diskussion hysterisch, die »spätrömische Dekadenz« eines Guido Westerwelle ist da nur ein krasses Beispiel. Das wird einem Großteil der Betroffenen nicht nur nicht gerecht – es verletzt sie auch tief. Die Würde des Menschen ist unantastbar? Nun ja, es kommt anscheinend darauf an, wie weit unten er steht.
Hinzu kommt ein geradezu fahrlässiger Umgang mit Fakten. Politiker, Meinungsbildner, Medien – auch höchst seriöse – jonglieren freihändig mit Zahlen und Behauptungen, um diese oder jene »Wahrheit« zu belegen. Im Grunde geht es dabei nur darum, sich von »denen da unten« abzugrenzen. Und zwar aus Selbstschutz. Um zu verdrängen, dass es auch sie unverhofft treffen könnte. Da fährt man lieber Fronten auf, Arbeitnehmer gegen Arbeitslose – obwohl beide Gruppen eigentlich eine sind und der Wechsel von der einen in die andere täglich hundertfach stattfindet.
Nötig wäre etwas anderes. Andere Fragen zu stellen als »Sind fünf Euro zu viel oder zu wenig?«. Zum Beispiel diese: Wie schaffen wir es, Druck auf Arbeitsunwillige auszuüben, ohne gleichzeitig Chancenlose mit diesem dauernden Druck zu zerreiben? Wie kann es sein, dass der Staat Unternehmen finanziell dabei unterstützt, Menschen zu Löhnen zu beschäftigen, von denen sie nicht leben können? Wie können wir Arbeitgeber an ethische Prinzipien und Steuerzahler an moralische Mindeststandards beim Umgang mit Leistungsempfängern erinnern? Und wie schaffen wir ein System, das Menschen wirklich in Arbeit vermittelt und nicht zum Wohle der Statistik in prekäre Jobs verschiebt oder sie gar in ihrer Eigeninitiative behindert? Also: Wie schaffen wir die Balance aus Fordern und Fördern? Und zwar nicht nur für »die da unten«, sondern für alle: Arbeiter, Firmenchefs, Aktionäre, Bildungsbürger, Politiker.
Das klingt unschaffbar. Aber es ist nötig. Während der Fachkräftemangel zunimmt, parken wir fähige Arbeitslose in staatlicher Fürsorge. Während Krisen Staat und Gesellschaft auf harte Proben stellen, nehmen wir in Kauf, dass ein Gemeinwesen sich selbst in Wertvolle und Wertlose spaltet, anstatt sich zu solidarisieren. Wir akzeptieren eine Politik und Bürokratie, die Menschen gängelt, statt für sie da zu sein.
Ach
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