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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
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Statistik auf. Sie gehören auch nicht zu den »Wohnungslosen« in Deutschland, die in städtische Notunterkünfte eingewiesen wurden. Ihre Zahl liegt laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe bei etwa 350 000 und es werden immer mehr, seit die Arbeitslosigkeit zunimmt. Das gilt gerade auch für Frauen und für jüngere Menschen.
    Die Menschen, die wir gemeinhin als »Obdachlose«, »Trebegänger«, »Berber« oder mit menschenverachtendem Dünkel als »Penner« bezeichnen, heißen in der Amtssprache »Nichtsesshafte«. Sie sind die Nichtgröße der datenverliebten Bürokratie, die Gespenster des Elends, die aus allen Netzen Herausgefallenen. Um ihren Alltag kennenzulernen, quartiere ich mich über Monate in Obdachlosenunterkünften ein, in Köln, Frankfurt, Hannover, Koblenz und anderswo.
    Im Johanneshaus ist ein etwa 20-Jähriger vor mir dran. Er kann sich kaum artikulieren, steht offenbar unter Drogen und lässt sich vom Mann an der Pforte widerstandslos hinauskomplimentieren: »Raus mit dir! Geh mit Gott, aber geh!« Mir gewährt er Einlass: »Anmeldung im ersten Stock!«
    Ich bin nicht der Einzige, der an diesem Feiertag hier unterkommen will. Auf dem schmalen Gang sitzen oder stehen noch sechs andere traurige Gestalten. Alle tragen ihr Hab und Gut in Rucksack, Tasche oder Seesack bei sich und lassen es nicht aus den Augen. In der Annostraße, das hatte mir ein Obdachloser erzählt, müsse man alles »festnageln«, sonst werde es geklaut.
    Hier auf dem Flur beim Warten lerne ich Helmut und Micha kennen, Vater und Sohn, beide seit vielen Jahren obdachlos und ein unzertrennliches Paar. Der Vater, 53, war über 20 Jahre Bierkutscher. Aber der Laden machte dicht, und Helmut wurde erst arbeits- und dann wohnungslos. Der Sohn von Helmut ist 34 Jahre alt und in Heimen aufgewachsen, denn die Familie brach auseinander, als er vier Jahre alt war. Micha lernte Schlachter und zog sich bei der harten Arbeit einen Bandscheibenschaden zu. Er verlor seine Stelle und landete ebenfalls auf der Straße.
    Vor drei Jahren wollte er in einer Grünanlage bei Aachen Quartier machen, einige Leute lagen da schon; er fragte, ob er sich dazulegen könne, und bekam die Erlaubnis. »So kam ich mit einem der Männer ins Gespräch«, erzählt er. Im Laufe der nächsten Stunden hätten sie bemerkt, dass viele Geschichten von früher irgendwie übereinstimmten. »Irgendwann haben wir uns erkannt und fielen uns weinend in die Arme. Wir werden uns nie mehr auseinanderbringen lassen.« Die beiden tragen seitdem die gleichen schlichten schwarzen Freundschaftsringe.
    Ein etwa 50-Jähriger, dessen relativ adrette Kleidung auf den ersten Blick nicht auf Obdachlosigkeit schließen lässt, kommt kopfschüttelnd aus dem Aufnahmebüro und schimpft: »Jetzt soll ich nach Hamburg zurück, weil ich da wohnungslos gemeldet bin. Aber ich habe nicht mal Geld für die U-Bahn. Ist ihnen egal, sie meinen, länger als drei Tage dürften sie mich als Ortsfremden hier nicht aufnehmen.«
    »Was hat dich denn nach Köln verschlagen?«, frage ich.
    »Meine Tochter hat mich eingeladen, bei ihr Weihnachten zu feiern. Aber ihr neuer Partner, der ihr die Wohnung finanziert, will keinen Penner in seinem Haus. So bin ich hier gelandet.« Er erzählt noch, dass er technischer Zeichner gewesen und sein Arbeitsplatz nach 25 Jahren wegrationalisiert worden sei. »Dann das Übliche. Drei Jahre Arbeitslosengeld, dann Hartz IV. Ich konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Zwangsräumung. Über hundert Bewerbungen. Aber in meinem Alter und ohne feste Adresse? Chancenlos.«
    »Und jetzt?«
    »Ich habe einen Schlafsack dabei und könnte Platte machen [d. h. im Freien übernachten]. Aber da habe ich mir schon mal eine Lungenentzündung geholt. Also werde ich wohl ohne Fahrschein nach Hamburg fahren. Sollen sie mich ruhig erwischen, da komme ich als Wiederholungstäter über den Winter für ein paar Monate in den Knast.«
    Ich habe »Glück« bei der Aufnahmeprozedur. Ich will erst mal nur für eine Nacht aufgenommen werden. Der Angestellte schüttelt zuerst den Kopf: »Sie können nicht nur eine Nacht bleiben. Das geht nur bei Ortsfremden.« Das verstehe ich nicht. Aber wenn er mich länger hier haben will, nun gut, dann bleibe ich halt über die Weihnachtstage und »feiere« auch noch Neujahr hier. Das ist dem etwa 50-Jährigen, gutmütig dreinschauenden Sozialarbeiter aber wieder zu viel und er entscheidet: »Ich drücke ein Auge zu. Das dürfte ich an und für sich nicht. Wer nur

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