Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Hartz-IV-Empfängerin trägt während seines Abiturs Zeitungen aus und geht einen Abend in der Woche arbeiten – eigentlich um für den Führerschein zu sparen, den er für seine gewünschte Ausbildung benötigt. Von den Einnahmen darf er allerdings nur 120 Euro behalten, der Rest wird auf den Regelsatz des Haushalts angerechnet. Vom Amt kommt sogar noch die Frage: »Kann Ihr Sohn nicht noch mehr arbeiten? Dann käme ja noch mehr Geld rein.« Wohlgemerkt: während des Abiturs. Abgesehen davon: Studiengebühren? Sind Privatvergnügen. Dafür müssen aus dem Regelsatz Rücklagen gebildet werden. Schmales Gehalt im ersten Ausbildungsjahr? Wird angerechnet. Die Kinder tragen die Eltern mit. So schafft man es nicht, bald auf eigenen Füßen zu stehen. Ein Sohn geht studieren – und hat weiterhin Anspruch auf Kindergeld. Das aber wird der Mutter auf den Regelsatz angerechnet, obwohl es eigentlich ab dem 20. Lebensjahr dem (eigenständigen…) Sohn zusteht. Begründung: »Ihr Sohn kann ja am Wochenende zu Ihnen nach Hause kommen.«
Wie eine Mutter sagt: »Bildungsgleichheit in Deutschland gilt für viele. Aber nicht für Kinder von Hartz-IV-Empfängern.« Und das, obwohl eindeutig erwiesen ist, dass eine gute Bildung die beste Vorbeugung gegen Arbeitslosigkeit ist…
Zynismus – und Halbzeit
»Man wird irgendwann zum Zyniker«, sagte mir ein Hartz-IV-Empfänger in einem meiner ersten Gespräche Anfang Oktober. So langsam verstehe ich, was er meint. Heute zum Beispiel. Da sind die Zeitungen voll von Erfolgsmeldungen rund um das Herbstgutachten . Von einem rasanten Aufschwung sprechen die Experten: 3,5 Prozent Wachstum in diesem Jahr, weniger als 3 Millionen Arbeitslose 2011. Die Frage ist, für wie viele Hartz-IV-Empfänger das den dauerhaften Absprung bringen wird. Denn gleichzeitig mit dem Aufschwung wird die Zahl der Leih- und Zeitarbeiter ansteigen – vielleicht noch in diesem Jahr auf über 1 Million. Nach Ansicht der Gewerkschaften ist das eine Schattenarmee, die normale Beschäftigungsverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft verdrängt.
Darüber hinaus rechnen die Experten damit, dass im Aufschwung auch die Löhne steigen und den Konsum in Deutschland ankurbeln werden. Auch das wird dann an Hartz-IV-Empfängern vorbeigehen. Ich merke selbst, wie sich mein Blick verändert. Werbebotschaften, die im Alltag so gegenwärtig geworden sind, dass sie einem ganz selbstverständlich vorkommen, kriegen plötzlich einen bitteren Tonfall. Im Fenster der Bank werde ich von einer lächelnden Frau mit Perlenkette aufgefordert, an die Bildung meiner Kinder zu denken und für deren Ausbildung einen Kredit aufzunehmen – den ich Hartz-IV-Empfänger niemals bekommen werde. Die Liste lässt sich immer weiter fortsetzen. Flachbildfernseher, Handy-Tarife, Last-Minute-Reisen, Körperpflege, Wellness-Angebote, aktuelle Wintermode, Freiheit, Luxus, Wohlgefühl.
All die Dinge, die unsere Volkswirtschaft am Laufen halten und mit denen und über die wir uns so gern selbst definieren: Der Nachfrage und der Wirtschaft tut’s gut und damit auch dem Staat. Ja, der Wunsch nach all den Dingen kann ja sogar eine (und absolut nicht die schlechteste…) Motivation sein, arbeiten zu gehen, Geld zu verdienen und wieder auszugeben. Nur für die, die das auch gern tun würden, aber nicht können, weil sie auf dem Arbeitslosigkeits-Abstellgleis gelandet sind, ist das allgegenwärtige Werbeflackern wie das ständige Streuen von Salz ins verwundete Selbstwertgefühl.
Ach, übrigens: Heute ist Halbzeit. Mitte des Monats. Von meinen 364 Euro sind noch 173,11 Euro übrig. Deutlich weniger als die Hälfte. Bei Nachrichtenübermittlung, Gesundheit, Gaststätten und Wohnen habe ich den Regelsatz-Bedarf bereits überschritten. Ich bin gespannt, wie eng es gegen Ende wird.
Arbeitswille
Es tut mir leid – aber Hartz IV ist nun mal ein Thema, bei dem es oft um Zahlen geht. Bei den Zahlen entstehen die meisten Verwirrungen – und die meisten Fehleinschätzungen. Hier also einige Zahlen zu der Frage, wie viele Hartz-IV-Empfänger eigentlich arbeiten könnten, zumindest theoretisch.
In Baden-Württemberg sind knapp 360.000 von 500.000 Empfängern als erwerbsfähig eingestuft. Heißt umgekehrt: 140.000 (etwa ein Drittel) kann offiziell gar nicht arbeiten gehen, die meisten davon deshalb, weil sie zu jung sind (unter 15 Jhre). Von den 360.000 Erwerbsfähigen sind gut 90.000 (ein Viertel) tatsächlich erwerbstätig, beziehen aber trotzdem Leistungen über
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