Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
ja, und mein Selbstversuch. Er hat mich einiges gelehrt, aber er konnte nicht realistisch sein. Von meinen 364 Euro waren am Monatsende noch 30 Euro übrig. Weil ich keine Winterschuhe kaufen musste. Weil meine Waschmaschine nicht kaputt gegangen ist. Weil mir kein Amt Geld gekürzt oder die Zahlung verschleppt hat. Weil ich mit der kompletten Infrastruktur eines gut ausgestatteten Lebens in den Monat gestartet war. Der Lerneffekt? Man kann vom Regelsatz überleben. Gut leben kann man davon nicht. Und: Je länger Hartz IV dauert, umso schwerer wird es.
In meinen 31 Tagen bin ich nachdenklich geworden. Und intolerant. Nicht den Betroffenen gegenüber, aber denen, die eiskalt über ihre Köpfe hinweg diskutieren, ohne die Zahlen und Fakten und die Menschen dahinter zu kennen. Genau hinschauen ist eben mühsam. Blind nach unten treten ist einfach. Jeder kann selbst entscheiden, was er tut.
Unter Null. Die Würde der Straße – Von Günter Wallraff
Seit den 1960er-Jahren schreibt der Journalist Günter Wallraff Reportagen vom Rande der Gesellschaft. Er berichtete vom Alltag der Industriearbeiter im Ruhrgebiet, er ließ sich als Alkoholiker in einer psychiatrische Klinik einweisen, arbeitete als Reporter bei er Bild -Zeitung oder als Niedriglöhner in einer Großbäckerei und zuletzt als Paketausfahrer. Für sein Buch »Ganz unten« lebte er 1983 bis 1985 verkleidet als türkischer Gastarbeiter. Für die Reportage »Unter Null. Die Würde der Straße« lebte er in den kältesten Tagen des Winters 2008/2009 als Obdachloser in Köln, Hannover und Frankfurt am Main. Sie ist erstmals im Zeitmagazin erschienen, eine gleichnamige TV-Dokumentation lief im ZDF. Sie ist auch in Wallraffs Buch Aus der schönen neuen Welt: Expeditionen ins Landesinnere (Kiepenheuer & Witsch) zu lesen.
Heiligabend, kurz nach 17 Uhr, die Kölner Innenstadt ist wie ausgestorben, hier und da läuten Kirchenglocken. Der 24. Dezember sei der »gefühlt wichtigste Tag des Jahres«, hat der Juniorchef eines großen Kölner Verlagshauses in seiner Zeitung verkündet, aber mir ist alles andere als weihnachtlich zumute.
Der Pförtner in Kölns ältestem und größtem Nachtasyl, dem Johanneshaus in der Annostraße, wirft mir einen misstrauischen Blick zu. Vielleicht habe ich es auch übertrieben mit meiner Kleidung: Die zerschlissene, zehn Jahre alte Hose habe ich zusätzlich mit Löchern versehen und eine Jacke aus einer Kleidersammlung an einigen Stellen zerfetzt. Die klobigen, verschmutzten Schuhe sind Arbeitsschuhe aus meiner Zeit als türkischer Arbeiter »Ali« bei Thyssen in den Achtzigerjahren. Die Hornbrille aus meiner Jugendzeit hilft mir bei der Verfremdung. Ich trug sie als 22-Jähriger, als ich ein halbes Jahr auf Tramptour die Nachtasyle Skandinaviens besuchte und meine erste Reportage über Deutschlands größtes Obdachlosenasyl, das Hamburger Pik As, veröffentlichte. Ich trage eine alte Reisetasche mit zusammengerollter Isomatte und einen Rucksack bei mir.
Mein Ausweis ist von einem Freund entliehen. Ich lernte ihn kennen, als ich hörte, es gebe einen Doppelgänger, der ständig mit mir verwechselt werde. Er tat mir den Gefallen, sich beim Einwohnermeldeamt wohnungslos zu melden. Dort bekam er einen Aufkleber in den Pass: »Ohne festen Wohnsitz«. Ohne diesen Aufkleber darf man nicht in Notunterkünften übernachten. Auch der Notfall hat seine Regeln. Die Bürokratie, das werde ich in nächster Zeit oft zu spüren bekommen, macht einem das Leben auch dann noch schwer, wenn man ganz unten angekommen ist.
Wieder bin ich unterwegs, doch diese Reise im Winter führt mich nicht in die Arbeitswelt, sondern in die Welt derer, die schon längst keinen Job und keine Wohnung mehr haben. Ich lerne Menschen kennen, die auf der Straße leben, manchmal in Nachtasylen unterkommen, die vom Betteln leben oder von dem einen oder anderen Gutschein eines Sozialamtes – vielfach verachtete Menschen. Menschen, die auch Angst machen. Denn sie scheinen uns zu zeigen, was geschieht, wenn alle sozialen und familiären Netze reißen. In den Zeiten der Krise wächst die Angst vor dem sozialen Absturz. Deshalb will ich mich bei denen umsehen, die anscheinend nichts mehr zu verlieren haben.
Mindestens 30 000 Menschen in Deutschland haben kein Dach über dem Kopf. Sie leben und übernachten auf der Straße, manchmal kreuzen sie in einer »Notschlafstelle« auf, dem, was wir üblicherweise als Obdachlosenunterkunft bezeichnen. Diese Menschen tauchen in keiner
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