Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Obdachlosenhilfe scheiterte. Der erste ist das Prinzip von Dankbarkeit an sich. Dankbarkeit entsteht dann, wenn ich eine Sache wertschätze, ihr also einen Wert gebe, sie als wertvoll ansehe. Wertvoll sind in unserer Gesellschaft jedoch vor allem Dinge, die etwas Besonderes ausmachen. Wie dankbar sind Sie für etwas, das Sie als absolut normal empfinden, das jederzeit und überall verfügbar ist? Wann sind Sie das letzte Mal zum Wasserhahn gegangen und haben gedacht: »Bin ich dankbar dafür, dass genau jetzt, wo ich es brauche, Wasser herausfließt!« ?
Wenn wir nach tagelanger Wildkräuterdiät auf unseren Expeditionen einen Fisch gefangen oder einen Kürbis gefunden hatten, war es das leckerste und königlichste Gericht, dass wir jemals gegessen hatten. Wir zerflossen innerlich vor Dankbarkeit. Kommen wir jedoch nach Hause zu unseren Eltern und finden dort wie immer einen liebevoll gedeckten Tisch, fällt es uns oft schwer, dafür Danke zu sagen und es tatsächlich so zu empfinden und nicht nur als Höflichkeitsfloskel in den Raum zu werfen. Anders als in der Wildnis, wo die Nahrungssuche eine der größten Herausforderungen ist, lebt man in der Stadt so im Überfluss, dass es schwerfällt, sich davor zu retten. Selbst, wenn man von morgens bis abends vollgepumpt mit Alkohol und Drogen ist, verhungert man nicht. Hilfe in Form von Nahrung wird überall und zu jeder Zeit geboten.
Wenn wir die Sache ehrlich betrachten, so ist es mit der Dankbarkeit unter den Nichtobdachlosen nicht besser bestellt. Mit nichts gehen wir stiefmütterlicher um als mit unserer Nahrung. Vollgestopft mit Pestiziden, Fungiziden und Herbiziden reißen wir sie aus dem Boden und verschlingen sie als Fast Food im Gehen oder als Fertiggerichte beim Fernsehgucken oder während wir Bücher über Obdachlosigkeit schreiben.
Mit dieser Normalität, die zu einer Entwertung von dem führt, was eigentlich das Wichtigste und Wertvollste für uns sein sollte, geht ein zweiter Kernaspekt einher. Einer der ältesten Grundsätze, der einen zentralen Stellenwert bei allen Naturvölkern hat, ist das Prinzip von Geben und Nehmen. Alles muss im Gleichgewicht sein. Wenn ich etwas zur Gemeinschaft beitrage, bekomme ich dafür etwas zurück. Wenn ich etwas bekomme, gebe ich dafür etwas wieder. Nur zu geben oder nur zu bekommen macht auf Dauer unzufrieden und damit auch undankbar. Die Armenspeisung in der Katharinenkirche ist dafür ein Beispiel. Es ist keine gegenseitige Unterstützung zweier Gruppen, die sich auf Augenhöhe befinden. Auch wenn es nicht die Absicht ist, vermittelt die Hilfe eine klare Botschaft: »Uns geht es besser als euch, wir sind euch überlegen. Deswegen können wir euch helfen. Ihr hingegen könnt nichts für uns tun!«
Das Gefühl, von jemandem abhängig und ihm damit unterlegen zu sein, führt dazu, dass man sich minderwertig fühlt. Wie kann ich Dankbarkeit für jemanden empfinden, der mir das Gefühl eines Opfers vermittelt oder mich zumindest daran erinnert, dass ich dieses Gefühl selbst in mir trage? Was dieses Prinzip ausmacht, zeigte sich gleich am nächsten Morgen, als wir es pünktlich zum Frühstück im Franziskustreff schafften. Hier war das Frühstück nicht gratis, sondern kostete einen symbolischen Beitrag von 50 Cent. Allein diese 50 Cent führten dazu, dass die Atmosphäre entspannt und die Leute fröhlicher, vor allem aber auch respektvoller waren. Hier wussten sie das gute Essen wirklich zu schätzen.
Es kommt noch ein dritter Aspekt hinzu, vermutlich der wichtigste: Niemand landet einfach so als Obdachloser auf der Straße. Jeder, ohne Ausnahme, hat eine Vorgeschichte. Das Problem, das Obdachlose haben, ist nicht, dass sie auf der Straße leben. In Deutschland gibt es genügend Auffangnetze, sodass niemand auf der Straße leben müsste. Das Problem ist ihr Vorgeschichte, die sie auf die Straße gebracht hat. Die Hilfsmaßnamen zielen darauf ab, Menschen wieder in das »normale« Gesellschaftssystem einzugliedern. Kaum jemand fragt jedoch: »Warum lebst du, so wie du lebst?«
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben eine traumatische Erfahrung gemacht, die Ihr Leben völlig aus der Bahn wirft und alles zerstört, an das Sie bislang geglaubt haben. Sie stürzen in eine Alkohol- oder Drogensucht, um den Schmerz auszuschalten, merken aber, dass Sie nur immer noch tiefer absinken. Plötzlich liegen Sie am Boden und Ihnen wird klar, dass Sie etwas tun müssen. Es liegt in Ihrer Hand, ihr Leben zu verändern,
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