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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
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wieder aufzustehen und einen Neubeginn zu wagen. Und jetzt kommt jemand vorbei, streichelt Sie und sagt: »Sie armer, hilfloser Wurm! Ich gebe Ihnen ein Kissen und eine Decke, damit Sie es sich am Boden Ihrer Existenz bequem machen können, bringe Ihnen etwas zum Essen, mit dem ich Sie am besten gleich füttere, und gebe Ihnen dann noch Geld für ein Bier, damit Sie sich nicht aus Ihrer Sucht befreien müssen!«
    Schaffen Sie es, jetzt noch aufzustehen? Oder kuscheln Sie sich lieber an Ihr Leid, um gemeinsam mit ihm Ihrem Ende entgegenzusehen? Natürlich ist es leichter, Hilfe anzunehmen, und natürlich ist es eine nette Geste, sie anzubieten. Tief in Ihrem Herzen werden Sie aber spüren, dass es der falsche Weg ist. Wahre Dankbarkeit dafür zu empfinden ist damit faktisch unmöglich.
    Während wir noch unseren Gedanken nachhingen, kamen wir schließlich an der Suchtberatungsstelle der Diakonie an. Zunächst wollten die Damen uns nicht wirklich hereinlassen. Sie schienen nicht begeistert davon zu sein, uns irgendwelche Informationen zu liefern. Auf Dauer konnten sie unserem hartnäckigen, leicht dreisten Charme dann aber doch nicht widerstehen. So saßen wir dann kurze Zeit später mit einem heißen Tee vor der Nase an einem ovalen Tisch und plauderten über Suchtberatung. Informativ war das Gespräch allerdings nicht. Wir konnten weder etwas über die Ursachen von Suchterkrankungen noch über die Anzahl der Betroffenen erfahren. Das einzig wirklich Interessante war, dass uns die jungen Damen eine unserer Beobachtungen bestätigen konnten. Bei Obdachlosen handelt es sich zu gut 80 Prozent um Männer. Frauen hingegen, die ähnliche traumatische Erlebnisse durchmachen wie Männer, geraten meist nicht in die Obdachlosigkeit, sondern entweder in die Prostitution oder in die Abhängigkeit von einem Mann, der sie aushält. Letzteres ist oft nur eine andere Art der Prostitution und meist mit Unterdrückung, Gewalt und Vergewaltigungen verbunden. Die Frauen, die tatsächlich auf der Straße landen, sind meist geistig verwirrt und in verschiedene Traum- oder Parallelwelten abgeglitten.
    Auf unserem weiteren Weg durch die Innenstadt wurden wir von einem polnischen Bettler angesprochen, der uns um ein paar Cent bat. Wir erklärten ihm, dass wir selbst kein Geld hatten und als Landstreicher unterwegs waren. Trotz der großen Sprachbarriere entwickelte sich daraus ein längeres Gespräch. Der Mann bettelte schon seit Langem in Frankfurt. Er mochte es vor allem deswegen, weil die Polizei hier sehr entspannt sei und ihm niemals Stress bereite. Am Tag verdiente er etwa 15 Euro und war damit absolut zufrieden. Als wir ihn nach geeigneten Schlafplätzen fragten, erzählte er uns wieder von der Hauptwache. Er bot uns an, dass wir später noch mal vorbeikommen und gemeinsam mit ihm hingehen könnten. Er würde uns dann den Weg und die besten Plätze dort zeigen. Wir verabschiedeten uns und gingen unserer Wege, erneut mit einem guten Gefühl im Bauch angesichts der Warmherzigkeit, die uns entgegengebracht wurde.

Ich höre, wie das Münster aussieht – Von Peter Gerber
    Für die Berner Zeitung hat der Reporter Peter Gerber ausprobiert, wie es ist, blind zu sein. Es waren zwei Stunden, die seine Wahrnehmung der Welt verändert haben.
    »Hören wie Blinde« Unter diesem Titel bietet der Lehrer für Orientierung, Jean-Luc Perrin, Stadtrundgänge an. Ein Selbstversuch offenbart ein beeindruckendes Sinneserlebnis.
    Und dann ist es dunkel. Ich stehe mitten in der Stadt, kann nichts mehr sehen. Der Arm, den mir Jean-Luc Perrin anbietet, ist meine Stütze und der ausgebildete Lehrer für Orientierung und Mobilität ersetzt für die nächsten zwei Stunden mein durch die Augenbinde genommenes Sehvermögen. Aber nur zum Teil, denn, so will es Perrin, meine He­rausforderung besteht darin, dass ich Bern hören soll. Die Hauptstadt hören statt sehen, so wie es blinde Menschen tagtäglich tun müssen.
    Lärm ist wichtig. Die Geräusche von Autos, Bussen und Trams sind nicht mehr einfach Lärm. Sie wahrnehmen, einordnen und die Quelle lokalisieren zu können wird zur Grundlage, damit ich mich fortbewegen kann. Noch bin ich alles andere als trittsicher und ohne Jean-Luc Perrin wäre ich ziemlich verloren. «Entspanne dich», sagt er. Das gelingt mir mit der Zeit. Und das Vertrauen in meinen sehenden Begleiter steigt.
    «Wann immer du glaubst, ei nen Brunnen plätschern zu hören, sagst du es mir.» Nun gut, vorläufig höre ich Schuhe klappern,

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