Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
komplett in Schwarz gekleidet, inklusive Hexen-Kopftuch, bietet mir nach eineinhalb Stationen ihren Sitzplatz an. Um einen Platz bitten kann ich nicht, denn ich spüre: Wenn ich jetzt den Mund aufmache, werde ich schreien oder losheulen.
Im Krankenhaus in Neapel sagt mir der Orthopäde, dass die Achillessehe gerissen ist und wohl auch ein Teil des Wadenmuskels. Vermutlich müsse das operiert werden. Wenn es geht. Er packt mein Bein bis zur Hüfte in einen nur sehr bedingt elastischen Klebeverband. Auf keinen Fall darf ich auftreten, sagt er. Wie lange? Einen, vielleicht auch zwei Monate. Oder länger. Er wünscht viel Glück. Da bin ich also, mitten Neapel. Bin plötzlich behindert.
Wie komme ich jetzt aus dem Krankenhaus heraus und wie in die Apotheke? Mit einer Handtasche um den Hals und einer nicht mehr benötigten Sandale in der Hand? Der Taxifahrer, der mich vom Krankenhaus abholt, hilft mir. Leider hat die eine Apotheke zu und in der zweiten gibt es nur eine und nicht zwei Krücken. Immerhin. Die zweite ergattere ich drei Apotheken weiter. Jetzt kann ich humpeln, aber nichts mehr tragen, weil meine Hände voll sind. Duschen geht auch nicht. Erst recht nicht wie geplant am nächsten Tag nach Capri weiterzureisen und eine Schwimmtour in die Blaue Grotte zu unternehmen.
Der ADAC organisiert einen Krankenrücktransport. Sanitäter bringen mich in einem weißen Auto zum Airport. Dort werde ich im Rollstuhl gefahren. Immer schön an den Schlangen an Check-in und der Security vorbei bis zum Gate. Dort werde ich in meinem Rollstuhl stehen gelassen. Weil die Wartezeiten entfallen sind, bin ich viel zu früh da. Ein alter Mann entdeckt mich und quatscht mich eine Stunde lang voll. Ich kann nicht weg. Er meint es lieb und will sich um mich kümmern, aber es gelingt mir kaum, ihn zu bremsen. Dann holt mich endlich der Sanitätsdienst, um mich mit einem Spezial-Aufzug zum Flugzeug zu karren. Jede einzelne Stufe der Gangway sind für mich gerade so hoch wie das Karwendelgebirge. Also unerreichbar. In München das Gleiche. Ich fühle mich begafft, als mich zwei Männer mit einem Spezialstuhl aus dem Flugzeug zerren. Gewöhnen sich Rollstuhlfahrer jemals an so was? Wird man unempfindlicher gegen Blicke und Peinlichkeiten?
Mein Vater schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als man mich ihm vor die Füße rollt. Ich habe ihn als Abholer an den Flughafen bestellt, aber mit der Ausrede, ich hätte ein großes, sperriges Souvenir gekauft. Es war ja nur halb geschwindelt. Der Münchner Orthopäde bestätigt mit MRT und Ultraschall, was der italienische Kollege schon gesagt hat. Das bedeutet, die nächsten Monate auf Krücken zu laufen und die nächsten zwei Wochen mit dem linken Bein nicht einmal aufzutreten.
Sogar zu Hause ist alles plötzlich mühsam. Ich stelle einen Klappstuhl ins Bad, wo ich mich sitzend mit dem Waschlappen wasche. Ich kann kein Getränk von der Küche in das Wohnzimmer bringen. Waschen, Kochen, Aufräumen, alles einbeinig und eigentlich ohne Hände, sind Herausforderungen, die ich nicht alle annehmen kann. Sobald ich die Krücken weglege, stehe ich wackelig da. Mich zu strecken, um oben ans Geschirregal oder an die oberen Fächer im Kleiderschrank zu kommen, ist ohne Umfallen nicht möglich, daher lasse ich es bleiben. Von Einkaufen, Putzen und Weggehen kann gar keine Rede sein. Ich träume von Heinzelmännchen und Hausdienern, die mir Luft zufächeln.
Außer Schmerzbewältigung ist Langsamkeit mein neues Thema. Es dauert jetzt dreimal so lange, bis ich morgens gewaschen und angezogen bin. Bis ich einen Kaffee gemacht habe. Das Espressotürmchen ist einbeinig kaum zu bedienen, weil ich dazu beide Hände brauche und in Unwucht kommte. Die Milch fürs Müsli aus dem Kühlschrank zum Tisch bugsieren, den einen Turnschuh anziehen: Alles dauert, dauert, dauert. Vom Auf-Krücken-Laufen habe ich Muskelkater und Blasen an den Händen.
Dass von meiner Wohnung acht Stufen bis zur Haustür und von da noch mal drei zur Straße sind, war mir bisher nie besonders negativ aufgefallen. Jetzt machen mich auch diese langsam, sodass das Taxi auf der Straße schon zornig hupt. Ich, die ich sonst immer überpünktlich bin, komme in diesen Tagen überall zu spät an, weil ich die neue Langsamkeit noch nicht einplane. Entschuldige mich zerknirscht. Und ernte Verständnis, unerwartet. Dafür bin ich dankbar. Stinksauer bin ich auf die Orthopädiepraxis. Denn die ist nicht barrierefrei zugänglich. Der Lift hält in einem
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