Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
wie nicht mehr. Dann kam der Tag, an dem er sein einjähriges Zeltjubiläum hatte, und das wollte er gebührend feiern. Er besorgte sich eine Flasche guten Whiskey und sang die ganze Nacht lang unter dem Sternenhimmel Lieder für sich selbst. »Okay, ich hab’s vielleicht etwas übertrieben und es hätte echt wieder dazu führen können, dass ich vertrieben werde, aber es war eine tolle Nacht, ich hatte meinen Spaß und es ist ja noch mal gut gegangen!«
Jeder andere Alkoholiker, der einen Entzug hinter sich hatte, beschrieb uns, dass er keinen Tropfen Alkohol mehr trinken dürfe, um nicht rückfällig zu werden. Bei diesem Mann war es jedoch anders. Er hatte nie beschlossen, mit dem Trinken aufzuhören. Er hat nie einen Entzug gemacht. Stattdessen hatte er die Ursache beseitigt, wegen der er zur Flasche gegriffen hatte. Er musste die Welt nicht mehr mit einem Rausch verschleiern, um sich über ihre Trostlosigkeit hinwegzuhelfen. Er hatte erkannt, dass die Welt schön war. Seitdem brauchte er den Alkohol nicht mehr.
Zum Abschied verriet er uns einen Tipp, den man als Frankfurter Obdachloser kennen sollte. In der Hauptwache gibt es eine öffentliche Toilette, für die man normalerweise 50 Cent bezahlen muss. Sagt man allerdings, man komme von der Frauenkirche, wird man als Hilfsbedürftiger anerkannt und darf umsonst hinein.
Das Gespräch hatte uns zwar inspiriert und fröhlich gestimmt, aber leider nicht satt gemacht. Da es langsam auf 12 Uhr zuging, machten wir uns auf die Suche nach der Kirche für die Mittagsspeisung. Der Heckenbewohner hatte uns zumindest den Namen der Kirche verraten. Wir fragten einen Bettler, der mit einer Spendenbox auf dem Schoß auf einem Kissen saß und Dan Browns »Illuminati« las.
»Ihr geht hier die Straße bis ans Ende, biegt dann rechts ein, dann die zweite links und dann kommt ihr auf einen größeren Platz. Dort in der Mitte findet ihr euer Mittagessen!« Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen auf der Straße begeisterte uns immer wieder, ebenso wie die Tatsache, dass einfach jeder über alles Bescheid wusste, was einem das Leben draußen erleichterte. Du musst nichts wissen über eine fremde Stadt. Frag einfach den ersten Obdachlosen, den du findest, und du erfährst alles, was du brauchst. Wir verloren dadurch die Angst, neue Städte zu erkunden. Es fühlte sich an, als wären wir ein Teil einer riesigen Gemeinschaft, eines Vereins, zu dem jeder dazugehören kann, der es will. Überall fanden wir Mitglieder, an die wir uns wenden konnten.
Wir folgten der Wegbeschreibung und kamen, wie erwartet, an der Katharinenkirche an. Die Speisung ist eine Aktion der kirchlichen Hilfswerke, die in Frankfurt über die Wintermonate stattfindet. Jeden Mittag ab 12 Uhr wird für alle, die es möchten, ein Essen in der Kirche ausgegeben. Anschließend darf man dann noch in der Kirche bleiben, sich ausruhen und sogar auf den Bänken schlafen. Vorausgesetzt natürlich, man kann zwischen so vielen Menschen und bei dem hohen Lärmpegel einschlafen.
Als wir die Katharinenkirche betraten, war sie bereits überfüllt. Mit Freiheit und Selbstbestimmtheit war es nun erst mal vorbei. Die Menge trieb uns mit sich und warf uns in den Gängen hin und her. Wir fühlten uns wie Sardinen, die man nicht zu zehnt in eine Konservendose, sondern zu Hunderten in eine Waschmaschine gesteckt hatte, um dann ordentlich den Schleudergang einzuschalten. Wenn wir keinen Ellenbogen in die Seite oder keinen Fußtritt vors Schienbein bekamen, wurden wir an unseren Rucksäcken nach vorn geschubst oder nach hinten gezerrt. Dass wir aufrecht stehen blieben, verdankten wir alleine der Tatsache, dass es keinen Platz zum Hinfallen gab. Irgendwann schafften wir es, uns in eine Nische an der Wand zu retten und uns von dort einen Überblick zu verschaffen. Hinter den Kirchenbänken hatte man fünf parallele Tischreihen aufgestellt, die jetzt voll besetzt waren. Neben uns an der Wand befanden sich Tische und Plastikkübel für das schmutzige Geschirr. Aus einer Ecke ganz auf der linken Seite kamen immer wieder Bedienungen, die versuchten, mit hoch erhobenen Tellern voller Kartoffelbrei und Hähnchenschenkel durch die Menge zu schwimmen. Es dauerte eine Weile, bis wir das System durchschaut hatten. Jeder, der einen Sitzplatz hatte, bekam einen Teller hingestellt. Jeder, der aufgegessen hatte, musste seinen Platz sofort wieder verlassen und ihn für den Nächsten freigeben. Soweit die Theorie. Die Praxis war ein Kampf
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