Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
einem Mann, der ein alter Bekannter zu sein schien. Irgendwo eine lockere Bemerkung unsererseits in die Runde, und ehe wir uns versahen, waren wir Teil des Gesprächs.
Er lebte nun seit über neun Jahren auf der Straße. Bereits bei seinem ersten Satz merkte man, dass er ein völlig anderer Typ Obdachloser war als alle, die wir bislang kennengelernt hatten. Seine Karriere begann, wie er sagte, als »Sonntagspenner«. Er hatte immer schon in ärmlichen Verhältnissen gelebt und irgendwann begonnen, sonntags die Hilfseinrichtungen der Stadt zu nutzen, um über die Runden zu kommen. Eines Tages geriet er in eine finanzielle Krise. Er verlor seinen Job und kurz darauf seine Wohnung. Vierzehn Tage lang war er obdachlos. Dann gelang es ihm, sein Leben so weit in die Bahnen zu lenken, dass er wieder ein festes Dach über dem Kopf bekam. Ab hier begann der erstaunliche Teil der Geschichte. Während er seine neue Wohnung einrichtete, begann er, das Leben auf der Straße zu vermissen.
»Die Freiheit, die ich in den 14 Tagen auf der Straße erlebt habe, war so etwas Neues für mich, dass ich sie einfach nicht vergessen konnte.« Also tat er das, was sein Herz ihm sagte. Er packte sich einen Rucksack zusammen, kündigte seinen neuen Job, gab seine Wohnung auf und ging zurück auf die Straße. Von jetzt an war sein Leben sein eigenes Experiment. Er probierte alles aus, was es in Deutschland an Möglichkeiten für einen Obdachlosen gab. Er schlief auf der Straße, in U-Bahn-Schächten, in Notunterkünften, auf Parkbänken, in Papiercontainern und über Belüftungsschächten, aus denen die warme Luft der Zentralheizungen großer Kaufhäuser strömte. Vieles davon ging für eine Weile gut, einiges war sofort zum Abgewöhnen. Insgesamt teilte er unsere Feststellung, dass Ausschlafen etwas sehr Schönes ist und dass einem das in der Großstadt um Himmelswillen niemand gönnen will.
So kam er schließlich auf seine Patentlösung: ein Zelt versteckt im Gebüsch, umgeben von Natur. Draußen vor der Stadt, mit guter Anbindung zum Zentrum, um an Essen zu gelangen. Die ersten Versuche gingen schnell schief, weil er irgendwann unachtsam wurde. Er verhielt sich zu auffällig und wurde dadurch vertrieben. Mit der Zeit aber wurde er schlauer. Jetzt lebte er bereits seit über einem Jahr in einer Brombeerhecke, in die er sich einen kleinen, unauffälligen Eingang geschnitten hatte, den nur er kannte. Mittendrin stand sein Zelt, ausgestattet mit zwei Schlafsäcken, zwei Isomatten, einer Thermarestmatte und einigen warmen Decken, die ihm selbst in diesem arktischen Winter ein wohliges Zuhause bereiteten.
Um nachts nicht in die Kälte raus zu müssen, hatte er sich eine Granini-Flasche als Nachttopf angeschafft, in die er hineinpinkeln konnte. »Die kommt natürlich immer vors Zelt und innen steht mein Trinken. Nicht dass es zu Verwechslungen kommt.« Er lachte laut und blickte uns tief in die Augen. Mit dem Zelt in der Hecke hatte er sich einen Platz geschaffen, an dem er absolut in Ruhe leben konnte. Er hatte die Möglichkeit, auszuschlafen, solange er wollte, hatte keine schnarchenden Alkoholiker oder hyperaktiven Junkies um sich herum, wurde nicht von pöbelnden Jugendlichen belästigt und musste nicht auf die Gutmütigkeit von Polizisten und städtischen Beamten vertrauen.
Um in der Stadt schlafen zu können, bleibt einem fast nichts anderes übrig, als sich mit Alkohol oder Drogen sinnestot zu machen und die laute Außenwelt auszublenden. Bereits in einer eigenen Wohnung ist es schwierig, guten Schlaf zu finden. Als Obdachloser ist es nahezu unmöglich. Die Natur vor der Stadt ist erscheint daher als gesündere und entspanntere Alternative. Die Begeisterung leuchtete dem Mann aus den Augen, als er uns von den Füchsen erzählte, die ihn inzwischen als Nachbarn vollständig akzeptiert hatten. Sie hatten gerade Paarungszeit und tollten wie wild um sein Zelt. Er konnte ihnen stundenlang dabei zuschauen. Ihre Lebensfreude hatte sich so stark auf ihn übertragen, dass er selbst fast wie ein junger Fuchs wirkte, der jeden Moment zu tanzen beginnen wollte.
Die beeindruckendste Wirkung, die die Natur auf ihn hatte, zeigte er uns anhand seiner Geschichte. Sein übermäßiger Alkoholkonsum war einer der Gründe, warum er auf der Straße gelandet war. Auch für die Zeit, in der er als Obdachloser inmitten von Großstädten gelebt hatte, beschrieb er sich als starken Alkoholiker. Seit er jedoch sein Heim im Brombeerstrauch hatte, trank er so gut
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