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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
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»Jeder gegen jeden« um die Plätze. Es gab nicht unbegrenzt viele Hähnchenschenkel. Rücksichtnahme und Freundlichkeit waren also kein Erfolgsgarant.
    Einen knappen Meter von uns entfernt kam es beinahe zum Eklat. Ein Mann stand an der Stirnseite eines Tisches, einer der strategisch günstigsten Positionen. Er scannte die Stuhlreihen nach Anzeichen für ein baldiges Aufstehen ab. Ohne Vorwarnung stürzte plötzlich ein anderer auf ihn zu und wollte seinen Lauerplatz einnehmen. Es kam zu einem Gedränge mit einem angeregten Austausch wüster und aggressiver Beleidigungen, das fast in eine Keilerei ausgeartet wäre. Ein lauter, bestimmter Schrei eines Mitarbeiters, der keinen Widerspruch zuließ, beendete die Auseinandersetzung so plötzlich, wie sie begonnen hatte. Mit einem Schlag herrschte eine betroffene Stille im ganzen Raum. Die Toleranzgrenze der Mitarbeiter war zwar hoch, aber nicht unendlich. Das wurde nun jedem, der es vergessen hatte, wieder bewusst. Da niemand ein Hausverbot riskieren wollte, fiel der Aggressionslevel wieder auf sein vorheriges Niveau. Die Gespräche und das Gedränge wurden wieder aufgenommen.
    Unsere eigene Mission wurde beträchtlich von unseren übergroßen Rucksäcken erschwert. Immer waren sie irgendwo irgendwem im Weg, vor allem uns selbst. Als es uns nach einigen Fehlversuchen und Gewitterstürmen von Flüchen, die von allen Seiten auf uns einregneten, tatsächlich gelang, zwei Plätze zu ergattern, fühlten wir uns wie Helden nach einer nur knapp gewonnenen Schlacht.
    Doch für Siegesgefühle blieb keine Zeit, denn jetzt ging es in die zweite Runde. Diesmal hieß die Disziplin »lautes, dreistes und uncharmantes Rumpöbeln in Richtung der Bedienungen«. Denn je lautstarker man auf sich aufmerksam machte, desto schneller bekam man einen Teller. Wir begnügten uns damit, das Treiben zu beobachten, und warfen der ebenso hübschen wie entnervten Bedienung mitleidige Blicke zu. Das führte dazu, dass wir keine Hähnchenschenkel, sondern nur noch Kartoffelbrei mit Sauce bekamen. Dafür konnten wir jedoch essen, ohne ein Magengeschwür durch unsere eigene Unentspanntheit zu riskieren. Es war faszinierend, mit wie wenig Dankbarkeit die Menschen auf ein so großzügiges Angebot reagierten. Ein Mann neben uns war nur knapp von einem Wutanfall entfernt, als er erfuhr, dass die Hähnchenschenkel aus waren. Eine Frechheit sei es, er müsse sich das nicht bieten lassen, und ehe er das esse, esse er lieber überhaupt nichts. Gegessen hat er dann aber trotzdem, während er die Bedienung weiterhin mit Beleidigungen und Verwünschungen überschüttete. Diese schüttelte nur den Kopf und holte den nächsten Teller.
    Währenddessen setzte sich Hans-Peter zu uns gegenüber an den Tisch. Er begrüßte uns offenherzig, stellte sich vor und begann gleich ein freundliches Gespräch über Bärte. Seinen eigenen, Heikos und Bärte im Allgemeinen. Er hatte eine andere Strategie und Ausstrahlung als die anderen Obdachlosen im Raum. Er kam bewusst erst gegen Ende der Aktion, wenn er sich sicher war, dass der Ansturm bereits vorbei war. Man bekomme dann nicht mehr die Filetstücke, aber leer ausgegangen wäre er noch nie, sagte er. Ihm war die entspannte Atmosphäre beim Essen wesentlich wichtiger als der Inhalt seines Tellers. Irgendwie schaffte er es, dass wir uns plötzlich bei ihm am Tisch willkommen fühlten. So als hätte er uns eingeladen, obwohl wir ja bereits viel länger da saßen. Auch wenn die Begegnung nur sehr kurz war, blieb sie uns doch in Erinnerung, denn Hans-Peter war der erste Obdachlose, der offen und frei auf uns zuging. Alle anderen waren zunächst verschlossen und in sich gekehrt. Sie öffneten sich stets erst auf unsere Initiative hin. Auch wir waren mit dem Essen, trotz der fehlenden Hähnchen, vollkommen zufrieden. Im Hinausgehen beobachteten wir noch einige Sanitäter, die sich um einen verwahrlosten alten Mann kümmerten. Er stand scheinbar kurz vor einer Alkoholvergiftung und drohte immer wieder zusammenzubrechen.
    Ein trauriges Gefühl hinterließ die Szenerie der Winterspeisung in uns aber dennoch. Wie konnte es sein, dass so viel Hilfe angeboten wird und diese nur dazu führte, dass sich die Menschen das Leben noch schwerer machten? War die Art der Hilfe wirklich sinnvoll, wenn sie doch nur zu mehr Unzufriedenheit und Disharmonie führte? Die Fragen begleiteten uns auf unserem Weg durch die Stadt und langsam wurden uns drei zentrale Aspekte bewusst, an denen das System der

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