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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
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schlurfende Schritte und Menschen reden. Noch versuche ich, mir bildlich vorzustellen, wo wir gerade sein könnten. Erst als ich mich nach einigen Minuten von diesen verwirrenden Vorstellungen verabschiedet habe, werden die Ohren zum Augenersatz. »Da vorne ist ein Brunnen«, sage ich, und Jean-Luc führt mich bis auf einige Meter an die Geräuschquelle heran. Die letzten gehe ich ohne Hilfe. »Höre genau hin, wo das fließ ende Wasser im Becken auftrifft, und schnappe mit der Hand nach dem Wasserstrahl«, so die Aufforderung meines Begleiters. Ich greife zu. Daneben. Beim zweiten Versuch bekomme ich nasse Hände – geschafft.
    Es wird eng und weit. Rechts von mir «spüre» ich etwas, ohne es zu berühren. Es ist eine Hauswand. «Wir sind am Anfang eines Laubenganges. Du sagst mir, wann wir wieder im Freien sind. Du wirst den Unterschied hören», sagt Jean-Luc Perrin. Recht hat er. Genau am Ende der Arkaden stelle ich fest, dass die Geräusche, die Echos, sich verändern.
    Wir stehen vor dem Jüngsten Gericht beim Münster. Spatzen und Touristen sind zu hören. Beim Eintritt in das gotische Bauwerk fällt als Erstes der Temperaturunterschied auf. Wir treten unter der Empore hervor in den Raum des 20 Meter hohen Mittelschiffs und ich kann die Höhe und den Unterschied zum engeren Raum unter der Empore mit meinen Ohren sehen. Zum Abschluss des Rundgangs stehen wir auf der Münsterplattform. Ich erfahre, dass das Rauschen der Aare an der Schwelle unterschiedlich tönen kann. Links vom Spiel- und Lesepavillon klingt das Wasser anders als auf der rechten Seite des Gebäudes. Vor Ort muss ich nach zwei Stunden die Augenbinde abnehmen und das Wasser bekommt einen dritten Klang. In Kombination mit dem Augenlicht und den im Vergleich zu 120 Minuten vorher stärker wirkenden Farben ergibt sich ein Gesamtes. Trotz des beeindruckenden Stadtrundgangs bin ich froh, weiter auf die Symbiose von Ohr und Auge zählen zu dürfen – ich möchte sie nicht missen.

Plötzlich behindert – Von Felicia Englmann
    Einen unfreiwilligen Selbstversuch als Gehbehinderte machte Felicia Englmann im Sommer und Herbst 2012. Sie hat viel gelernt in den Monaten auf Krücken – über Hilfsbereitschaft, Selbstbewusstsein und die erstaunlich hohe Zahl von Stufen in drei europäischen Städten. Über eine Umwelt, die barrierefrei und hilfsbereit sein will, aber es nicht immer schafft, wirklich hilfreich zu sein. Felicia Englmann ist Autorin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet für den Bayerischen Rundfunk, die Universität der Bundeswehr und an ihren eigenen Buchprojekten.
    Bisher hielt ich mich für eine Durchschnitts-Münchnerin. Ich bin Ende 30, gesund und einigermaßen aktiv. Einmal die Woche Schwimmen und Taekwondo, mit dem Fahrrad durch die Stadt, im Bioladen einkaufen, gesunde Ernährung mit Ausnahme amerikanischer Eiscreme und Aperol Spritz. Nichtraucherin und ein paar Kilo zu viel. Lust auf Fernsehabende und Abenteurerreisen. Neugier auf Kulturschätze und Leckerbissen. Mitten im Beruf, mitten im Leben, inmitten lieber Freude. Bürgerliche Mitte. München eben. Satt und sicher – was soll mir schon passieren?
    Es ist Sommer, ich reise nach Süditalien und natürlich – Lust auf Kunstschätze – besichtige ich Pompeji. Danach will ich noch an den Strand, es hat knapp 40 Grad Hitze, und als ich mir am frühen Nachmittag nach Überdosis Antike im Bahnhof ein Eis kaufe, sehe ich schon das Vorortzüglein herannahen. Jetzt aber schnell, ich laufe los, eilends, aber nicht hektisch, schnell durch die Unterführung zum anderen Gleis, wo der Zug gleich einfährt. In dieser dunklen Unterführung, mit Eis in der Hand, bürgerlichen Fußbettsandalen an den Füßen und Selbstzufriedenheit im Herzen, reißt es mich jäh heraus aus meiner gemütlichen Mitte. Es knallt, ein Schmerz sticht in meine linke Wade, kriecht an ihr hoch wie eine Schlange, ich überschlage mich vorwärts, komme nach einer Rolle wieder zum Stehen, stehe da mit meinem immer noch heilen Eis in der Hand und weiß: Nicht. Gut.
    Ich kann nur noch mit den linken Zehenspitzen auftreten, der Schmerz zerrt am Bein, ich humple die Treppen zum Bahnsteig hi­nauf, setze mich auf eine Bank, und lasse den Schmerz durch meinen Körper fließen. Während ich das Eis esse, sehe ich zu, wie meine Wade krampft und sich verformt, zuckende Beulen aus der Haut treten. Gar. Nicht. Gut.
    Zurück nach Neapel im rappelvollen Zug, das Gesicht offenbar zerquält. Ausgerechnet eine einäugige Alte,

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