Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
dorthin ist mir deutlich zu weit, also steige ich die Treppe zum Sperrengeschoss hinunter. Es ist mühsam. Andere alte Damen überholen mich. »Oh mei, gell, des is beschwerlich«, sagen sie im Vorbeigehen. Sie scheinen zu wissen, wovon sie sprechen.
Im Zwischengeschoss verkauft der Automat keine Wochenkarten. Bravo. Ich kaufe erst mal eine Streifenkarte. Zum Bahnsteig hinunter geht die Rolltreppe, aber die Fahrt wird zum Abenteuer. Da stehe ich oben und überlege, ob ich erst die Krücken, das gesunde oder das verletzte Bein auf die Treppe stellen soll. Die Fahrgeschwindigkeit der Treppe wirkt auf mich Formel-1-schnell. Gäbe es nicht doch einen Lift? Ja, gefühlte drei Kilometer und 500 Höhenmeter Treppe entfernt.
Mehr oder weniger mit allem gleichzeitig springe ich auf, falle fast vornüber und kann mich kaum abfangen, weil ich die Krücken in der Hand habe. Dieselbe Herausforderung unten, nur ohne Zeit zum Überlegen. Mit den Krücken voran abspringen. Glück gehabt. Aber leicht ist das alles nicht. Das nächste Mal fahre ich mit der Trambahn. Die Wochenkarte müssen Freunde mir besorgen, weil es sie nur an ausgewählten Verkaufsstellen gibt, die für mich derzeit unerreichbar sind.
Dennoch: Es lebe die Dienstleistungsgesellschaft! Nicht nur Pizza und chinesisches Essen kann ich mir fertig an die Haustür bringen lassen. Kaisers Tengelmann hat einen Lieferservice, der auch mein Viertel bedient, und einen respektablen Online-Shop. Das funktioniert bis aufs kleine Details super. Der Lieferant kommt einigermaßen pünktlich, trägt die Tüten bis in die Küche. Dass einmal die Nachos und die Gurken fehlen – egal. Schade nur, dass das Abendessen, zu dem ich Freunde eingeladen habe, mexikanisch werden und es als Vorspeise Gazpacho, also kalte Gurkensuppe, geben soll. Der nächste Laden ist 400 Meter entfernt, also stormtroopergalaktisch weit. Mache ich eben Gazpacho mit viel Wasser und Zucchini. Und Nachos werden eh’ überschätzt.
Das Abendessen vorzubereiten dauert den ganzen Tag. Dabei sind die Speisen relativ einfach. Mühsam sind das Eindecken, das Aufräumen, das Putzen. Als die Gäste dann da sind, muss ich sie mehrmals bitten, zu helfen, weil ich etwa das Tablett mit dem Gazpacho gar nicht von der Küche zum Esstisch tragen kann. Der Abend wird trotzdem lustig.
Als ich mal wieder die Stufen von meiner Wohnung in Richtung Haustür hinunterklettere, überholt mich eilenden Schrittes ein Weberknecht. Habe damit ein lustiges Posting für Facebook. Man muss ja auch über sich selbst lachen können. Das Lachen vergeht mir aber regelmäßig, wenn ich in der Trambahn oder auf der Straße Mütter mit Kinderwagen treffen. Durch die Bank sind sie diejenigen, die wenig oder überhaupt keine Rücksicht nehmen. Die alle vier Sitze hinten in der Bahn blockieren, obwohl das nicht nötig wäre, und auch nicht Platz machen. Die mir auf den Walker treten, die auf dem Gehsteig mit dem 1000-Euro-Kinderwagen herumkarjolen wie mit einem Schützenpanzer und mich zum Ausweichen zwingen, ihre Windeltasche gegen meine Krücken schleudern. Die Beobachtung wird sich in den kommenden Wochen bestätigen. Zwei Ausnahmen wird es geben: Eine aus Afrika stammende Frau, mit drei Kindern in der Tram unterwegs, hilft mir sogar beim Einsteigen und erzählt auf der Fahrt in gebrochenem Deutsch, dass sie mal in der Kirche gestürzt ist und sich den Knöchel schlimm verstaucht hat. Eine Frau mit Kopftuch erklärt ihren Kindern leise auf Arabisch, dass man nicht über Behinderte lachen darf. Die Münchner Durchschnittsmutti scheint jedoch so sehr mit sich selbst und dem Wunschkind beschäftigt zu sein, dass Achtsamkeit und Rücksicht nicht mehr im eigenen Programm vorkommen, sondern nur noch von anderen eingefordert werden.
Weil alles schon seit Langem gebucht ist, begebe ich mich auf eine Recherchereise nach Kopenhagen. Muss mich bei der Lufthansa einmal mehr als gehbehindert anmelden, peinlich, peinlich. Man weist mir beim Check-in einen Platz am Notausgang zu, damit ich mehr Platz für das Bein habe, und lässt mich mit meinen Krücken als Erste einsteigen. Die Purserin ist nicht begeistert. »Ich wusste gar nicht, dass das erlaubt ist«, schnattert sie und stapft los, um beim Kapitän nachzufragen. Währenddessen verräume ich meine Krücken selbst im Gepäckfach. Ich darf bleiben. Meine Sitznachbarin ist eine Pfarrerin aus New York auf Europareise und bewundert meine starke Natur.
In Kopenhagen holt mich ein netter junger Mann am Gate
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