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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
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Zwischengeschoss, es ist von jeder Seite ein halbes Stockwerk zum Eingang. Empört bin ich bei meinem ersten Besuch am Treppenabsatz gestanden und habe nach der jugendlichen Sprechstundenhilfe gekräht, die zufällig gerade die Praxis verlassen hat. »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, rief sie zurück. Den Satz werde ich noch öfter hören. Er ist immer überflüssig, meistens unpassend. Eine Floskel der Hilfslosigkeit, die nichts bringt, außer mich mit meiner Schwäche zu konfrontieren. Weil sie im Subtext sagt, dass ich dem Sprecher zu langsam bin und er auf mich warten muss. Obwohl er das natürlich nicht so meint.
    Die meisten Leute reagieren hilfsbereiter, als ich gedacht hätte. Rufen Taxis für mich. Halten Türen auf. Rücken den Stuhl zurecht. Meine Mutter hilft beim Putzen, mein Vater schleppt Getränke herbei. Kolleginnen bringen Kaffee mit und Mittagessen vom Asia-Imbiss. Die Nachbarin trägt meine Tasche bis zur Wohnungstür. Wie viele einstige Selbstverständlichkeiten jetzt Probleme sind, überrascht mich. Ein anderer Nachbar gibt mir einen Tipp, wie ich mit schwingendem Bein leichter auf Krücken laufen kann. Er zeigt mir eine Narbe am Knöchel. Achillessehne gerissen. Er zwinkert mir zu.
    Freunde laden mich zum Abendessen im Garten ein. Sie wohnen am Stadtrand, unerreichbar. Teil der Einladung wird daher, dass sie mich abholen und wieder nach Hause bringen. Ich freue mich. Andere Freunde werden mich später einmal abholen und mit mir in ein Restaurant fahren, wieder andere besuchen mich zu Hause. Helfen ein wenig im Haushalt, bringen Einkäufe mit. Ich freue mich, dass es viele sind. Einige, denen ich vereinbarte Treffen absagen muss, reagieren anders und sagen Sachen wie: »Na, gut, dann melde dich doch, wenn du wieder richtig laufen kannst.« Ich sage ihnen nicht, dass laut einem Schreiben meiner Krankenkasse die Möglichkeit besteht, dass ich für immer gehbehindert bleiben könnte.
    Trotzdem zahlt die Kasse nicht einmal die Fahrten mit dem Taxi zum Arzt. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln schaffe ich es aber nicht, dorthin zu kommen, weil ich zwei Mal umsteigen müsste. Der Arzt sagt auf Nachfrage, Scheine fürs Taxi bekäme man in meinem Fall nicht. Es sei zumutbar, Stadtfahrten selbst zu bezahlen oder die öffentlichen Verkehrsmittel zu nehmen. In meiner Zeit als Gehbehinderter werden mehr Taxirechnungen zusammenkommen, als der monatliche Hartz-IV-Satz ausmacht. Wie jemand, der wegen seiner Behinderung von Hartz IV lebt, mobil bleibt, ist eine spannende Frage. Ich kann es mir leisten, zu Jobs und Terminen mit dem Taxi zu fahren, und kann am Ende des Jahres die Kosten, hoffentlich, als außergewöhnliche Belastung von der Steuer absetzen. Wer das nicht kann, wird wegen seiner Behinderung womöglich sozial abgehängt.
    Viele Leute helfen mir gratis, ganz von selbst und als wäre es selbstverständlich, aber ich muss auch lernen, um Hilfe zu bitten. Nicht nur bei der Krankenkasse. Weil es nicht anders geht. Bisher war ich immer stolz und unabhängig, habe mir manchmal aus Faulheit oder Bequemlichkeit helfen lassen oder weil ich meinte, bei anderen etwas gutzuhaben. Oder auch weil es halt so üblich ist, dass man beim Umzug Freunde bittet, einem zu helfen. Jetzt aber muss ich aus Not um Hilfe bitten. Das fällt mir schwer. Ich muss mir und den anderen damit eingestehen, dass ich tatsächlich hilflos bin. Meine stolze Fassade bröselt. So lerne ich jetzt Nachbarn, an denen ich tendenziell eilig vorbeigerauscht bin, besser kennen. Wechsle ein paar Worte. Lerne, dass der junge Mann vom zweiten Stock Unfallchirurg ist. Dass die alte Dame aus dem fünften Stock auch Schwierigkeiten mit den acht Stufen hat.
    Mit dem neuen Walker, den mir der Orthopäde nach zwei Wochen Gips verpasst, wird alles besser. Ich kann mit ihm gehen, der Fuß ist geschont und durch aufblasbare Luftpolster im Inneren wie einbetoniert. Diese Orthese sieht aus wie ein Raketenstiefel aus »Star Trek« oder wie der Schuh eines Stormtroopers aus Star Wars. Oder wie Robocop. Er wird jedenfalls Ziel von Selbstironie und Spott. Ich fahre erstmals wieder U-Bahn. Erste Pleite schon am Abgang in den Untergrund: Die Rolltreppe, die eigentlich ihre Fahrtrichtung nach Bedarf wechseln soll, wechselt die Richtung partout nicht. Ich stehe oben und warte, bis eine Omi mich anspricht und sagt, dass der Richtungswechsel wohl kaputt ist und sie dort auch schon mehrmals erfolglos gewartet habe. Beim anderen Abgang gebe es einen Lift, sagt sie. Der Weg

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