Draußen wartet die Welt
Stelle in einer Schneiderei verschafft und ich habe bei der Familie des Schneiders gewohnt.« Ich ließ mich vom Rhythmus ihrer Worte mitreißen, als sie wieder einmal von ihrem Leben als Teenager erzählte und davon, wie sie sich mit Debbie, der Tochter des Schneiders, ein Zimmer geteilt hatte. Jeden Tag war Debbie mit einem Arm voller Bücher in die Schule aufgebrochen, während meine Mutter mit ihrem Nähkörbchen in die Schneiderwerkstatt gegangen war. Meine Mutter hatte ihren Tag damit verbracht, sich um Kleidungsstücke zu kümmern, die sie noch nie zuvor gesehen hatte: glänzende Abendkleider, Hosen für Frauen und Röcke, die ihre Kunden sich so kurz wünschten, dass meine Mutter errötete, wenn sie den Stoff absteckte.
Abends hörte sie mit der Tochter des Schneiders, die beinahe so etwas wie eine Freundin für sie war, auf einem CD-Player Musik. Sie sah fern und ging ins Kino. Einen Film mit dem Titel Meine Lieder – Meine Träume mochte sie besonders. Er handelte von ein paar Kindern, die singen lernten und deren Vater seine Strenge und seine Traurigkeit aufgab, als die Musik das Zuhause der Familie erfüllte.
Es war dieselbe Geschichte, die ich schon mein Leben lang kannte, aber diesmal war sie trotzdem anders. Jetzt war es die Geschichte der Erfahrungen, die meine Mutter gesammelt hatte, die sie mir selbst jedoch verwehrte.
»Und ich hatte Heimweh«, fuhr sie fort. »Ich konnte es kaum erwarten, bis ich genügend Geld verdient hatte, um wieder in die Welt zurückzukehren, die ich kannte. Als es so weit war, wartete euer Vater dort auf mich.« Ihre Worte klangen einstudiert.
Ich hatte keine Ahnung, wie es möglich war, dass ich etwas vermisste, was ich noch nie besessen hatte. Aber als ich den Erzählungen meiner Mutter lauschte, verstand ich plötzlich das Gefühl der Leere, das ich in meiner Brust spürte. Ich hatte Heimweh nach einer Welt, die ich noch nie gesehen hatte.
Kapitel 5
Ich saß zwischen Ruthie und James hinten auf der Kutsche, lauschte dem tröstlichen Klappern der Pferdehufe und versuchte, meine Enttäuschung vom vorigen Abend zu vergessen. Wir waren auf dem Weg zu Margarets und Jacobs Scheunenrichtfest. Meine Schwester hatte Jacob vor sechs Monaten, gegen Ende der Hochzeitssaison, geheiratet, und nun kamen alle Plain People ** aus der Gegend zusammen, um an nur einem Tag die Wände ihrer Scheune aufzustellen und das Dach zu bauen. Scheunenrichtfeste sind sehr fröhliche Ereignisse, aber nach der Unterhaltung mit meinen Eltern fiel es mir schwer, unbekümmert zu sein. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, dass ich meine Freundinnen treffen würde. Annie und Kate würden da sein und auch Mary und Sally. Sie freuten sich jedes Mal auf meine Geschichten über die Englischen, die zu uns zum Abendessen kamen, und heute hatte ich besonders viel zu erzählen.
** Die Amisch bezeichnen sich selbst als Plain People, »einfache Menschen«.
Ich hüpfte von der Kutsche, machte mich auf die Suche nach Kate und Annie und fand sie an Margarets Küchentisch, wo sie Salat und Gemüse in einer großen Salatschüssel aus Holz vermischten. Sie sahen beide strahlend auf, als sie mich sahen. Kates blonde geflochtene Zöpfe, die über ihren Rücken hingen, sahen aus wie Seile. Ihre Augen hatten die Farbe einer Sommernacht. Annie nickte mir kurz zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem Fenster zuwandte, durch das sie einen guten Blick auf die Männer hatte, die an der Scheune arbeiteten. Ich wusste, dass sie besonders nach einem ganz bestimmten Jungen Ausschau hielt, wie sie es zurzeit immer tat. Ich griff mir einen Salatkopf und begann, die Blätter zu zerkleinern und ebenfalls in die Schüssel zu geben.
»Letzte Woche waren englische Teenager bei uns zu Hause«, verkündete ich.
»Was hatten sie an?«, wollte Kate wissen. Sie legte ihr Messer weg und hörte mir aufmerksam zu.
Ich erzählte meinen Freundinnen von der dunklen Kleidung, die Caroline getragen hatte, und von den grellen Farben auf Jess’ T-Shirt. »Und sie hatten diese kleinen Telefone dabei, aber sie haben nicht reingesprochen«, fügte ich hinzu. »Sie haben nur irgendwelche Knöpfe gedrückt und draufgestarrt.«
»Sie haben SMS verschickt«, warf Kate ein. Ich schaute sie überrascht an. Kate überraschte mich immer wieder aufs Neue. Sie war eher der stille Typ, aber gleichzeitig war sie genauso aufmerksam wie ein Wachhund. »Sie tippen Nachrichten ein«, fuhr sie fort. »Und die Person, der sie die Nachricht schicken, kann
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