Drei Dichter ihres Lebens
Gelegenheit, sich einmal auch den Kreml und die Moskowiter anzusehen und auf Staatskosten nach Osten zu rutschen, selbstverständlich in der Nachhut, behaglich und ohne Gefahr, so wie seinerzeit in Italien, Deutschland und Österreich. Tatsächlich, er bekommt eine große Mappe von Marie Luise mit, gefüllt mit Briefen an den großen Gemahl, er wird feierlich beauftragt, in Eilkarossen und bepelzten Schlitten Geheimpost bis Moskau zu bringen. Da der Krieg in der Nähe gesehen – Beyle weiß es aus Erfahrung – ihm immer sterbenslangweilig wird, nimmt er sich privatim einiges zum persönlichen Amüsement mit, eine Kopie der zwölf Manuskriptbände der »Histoire de la peinture« in grünem Maroquinband und sein seit Jahren begonnenes Lustspiel; denn wo arbeitet man für sich besser als im Hauptquartier? Schließlich wird ja auch Talma nach Moskau kommen und die Große Oper, man wird sich nicht allzusehr langweilen und dann: eine neue Variante, die polnischen, die russischen Frauen ...
Beyle hält unterwegs nur Station, wo es Schauspiel gibt: auch im Krieg, auch auf der Reise kann er Musik nicht entbehren, allerorts muß die Kunst ihm Gefährtin sein. Aber erstaunlicheres Schauspiel noch erwartet ihn in Rußland: Moskau eine brennende Metropole der Welt, ein Panorama, wie seit Nero kein Dichter es großartiger erschaut hat. Nur fertigt Henri Beyle keine Oden bei diesem pathetischen Anlaß, und seine Briefe verbreiten sich wenig über dieses unangenehme Ereignis. Längst ist diesem subtilen Genießer das militärische Gekatzbalge der Welt nicht mehr so wichtig wie zehn Takte Musik oder ein kluges Buch: das feine Beben des Herzens erschüttert ihn mehr als die Kanonade von Borodino, und er hat nur noch wenig Sinn für andere Historie als die seines eigenen Lebens. So fischt er sich aus dem Riesenbrand einen schön gebundenen Voltaire heraus und gedenkt ihn mitzunehmen: souvenir de Moscou. Aber diesmaltritt selbst den Etappenschwärmern der Krieg mit seinen Frostbeinen kräftig auf die Zehen. An der Beresina hat der Auditor Beyle noch Zeit (als der einzige Offizier in der Armee, der an derlei Dinge denkt), sich tadellos zu rasieren, dann aber eiligst über die einkrachende Brücke, sonst geht es an den Kragen. Das Tagebuch, die »Histoire de la peinture«, der schöne Voltaire, das Pferd und der Pelz und der Mantelsack bleiben den Kosaken. Nur mit zerrissenen Kleidern am Leib, schmutzig, gehetzt, die Haut von Kälte zerrissen, rettet er sich nach Preußen. Und sein erster Atemzug ist wieder die Oper: wie andere ins Bad, stürzt er sich gleich in Musik, um sich zu erfrischen. So wird für Henri Beyle der russische Feldzug, die Vernichtung der Großen Armee, nicht viel mehr als ein Intermezzo zwischen zwei Abenden, der »Clemenzia di Tito« in Königsberg bei der Rückkehr und dem »Matrimonio secreto« in Dresden, bei dem Auszug ins Feld.
+++
1814 bis 1821, Mailand. Wiederum Zivil, Henri Beyle hat genug, endgültig genug vom Krieg. Eine Schlacht sieht von der Nähe aus wie die andere, man sieht in jeder dasselbe, »nämlich nichts«. Er hat genug von allen Aufgaben und Ämtern, von Vaterländern und Schlächtereien, von Papieren und Offizieren. Mag Napoleon in seiner »Courromanie« seiner wütigen Kriegskrankheit, noch einmal Frankreich erobern: gut, er tue so, aber ohne den Sukkurs fortan des Herrn Auditor Beyle, der nichts anderes mehr will als keinem befehlen und keinem gehorchen, der nichts begehrt als das Natürlichste und doch Allerschwerste: endlich, endlich sein eigenes Leben zu führen.
Schon vor drei Jahren, zwischen zweien der üblichen Napoleonskriege, zweitausend Franken in der Tasche, war er, selig und froh wie ein Kind, zum Urlaub hinabgesaust nach Italien: schon hat jenes Heimweh nach seiner eigenen Jugend begonnen, das den alternden Beyle bis zur letzten Stunde nie mehr verläßt – und seine Jugend heißt Italien: Italien und Angela Pietragrua, die er timid und scheu als kleiner Unteroffizier geliebt und an die er nun mit einmal unbezwinglich denken muß, seit die Kutsche die alten Pässe niederrollt. Abends kommt er an in Mailand. Rasch den Staub von Gesicht und Hand, andere Kleider über und hin in die Heimat des Herzens, in die Scala, Musik zu hören. Undwirklich, nach seinem eigenen Wort: »Musik erweckt die Liebe.«
Am nächsten Morgen schon eilt er zu ihr, läßt sich melden, sie erscheint, noch immer schön, begrüßt ihn höflich, aber fremd. Er stellt sich vor: Henri Beyle, der Name sagt
Weitere Kostenlose Bücher