Drei Dichter ihres Lebens
und hört auf die jetzt langsam einsetzende Musik. Sonderlich sagt ihm das Requiem nicht zu, er findet es »zu geräuschvoll«, es ist nicht »sein« Mozart, der flügelleichte, unbeschwerte; immer, wo die Kunst die ganz klare und sanghafte Linie überschreitet, wo sie sich über die menschliche Stimme emporwagt in die wilderen und ungezügelten der ewigen Elemente, wird sie ihm fremd. Auch abends, im Kärntnertor-Theater, der »Don Juan« wird ihm erst langsam verständlich, und wenn der Nachbar im Räume, der Herr van Beethoven (von dem er nichts weiß), einmal den Boreas seines Temperamentes gegen ihn anbrausen ließe, würde Stendhal nicht minder erschrecken vor diesem heiligen Chaos als sein großer Dichterbruder in Weimar, als der Herr von Goethe.
Die Messe ist zu Ende. Heiterer Miene tritt Henri Beyle, blitzend in Uniform und Übermut, aus der Kirche und schlendert den Graben entlang; bezaubernd findet er diese schöne, saubere Stadt Wien und ihre Menschen, die gute Musik machen, ohne darum schon so hart und grüblerisch zu verschroten wie droben im Nordland die andern Deutschen. Eigentlich sollte er jetzt in sein Amt gehen und für die Verproviantierung der Grande armée sorgen, aber das scheint ihm von minderer Wichtigkeit. Vetter Daru arbeitet ja wie ein Pferd, und den Sieg wird Napoleon schon erfechten: Gott sei Dank, daß er solche Käuze schuf, denen die Arbeit Spaß macht: man kann auf ihre Kosten gut leben. So zieht Cousin Beyle, von Jugend auf virtuos geübt in der Teufelskunst der Undankbarkeit, das bequemere Amt vor, Madame Daru in Wien über die Arbeitswütigkeit ihres Gatten zu trösten. Kann man sich besser gegen einen Wohltäter revanchieren, als daß man wohltätig ist gegen seine Frau mit Gefühl undZärtlichkeit? Sie reiten zusammen hinaus in den Prater, allerhand Intimitäten spinnen sich an im zerschossenen Lusthaus. Sie besehen die Galerien, die Schatzkammern und die schönen Landschlösser des Adels, bis nach Ungarn hinaus sausen sie in gutgefederten Kaleschen, indes die Soldaten bei Wagram sich die Schädel einschlagen und der wackere Gatte Daru Tinte schwitzt. Der Nachmittag gehört der Liebe, der Abend dem Kärntnertor-Theater, am liebsten Mozart und immerdar Musik: allmählich begreift der sonderbare Mensch unter dem Intendantenrock, daß für ihn in der Kunst der Sinn und die Süße alles Lebens liegt.
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1810 bis 1812, Paris. Glanzjahre des Kaiserreichs.
Es wird immer herrlicher. Man hat Geld und kein Amt, man ist – weiß Gott, ohne Verdienst! – dank zarter Frauenhände Mitglied des Staatsrats und Verwalter des Kronmobiliars geworden. Aber Napoleon bedarf glücklicherweise nicht ernstlich seiner Staatsratgeber, sie haben Zeit und können viel spazierengehen – nein: spazierenfahren! Denn Henri Beyle, die Börse gut gepolstert von diesen plötzlichen Funktionärsgeldern, lenkt jetzt sein eigenes, lackfrisch funkelndes Kabriolett, er speist im Café de Foy, beschäftigt den ersten Schneider, hat ein Verhältnis mit seiner Cousine und hält sich (Ideal seiner Jugend!) außerdem eine Tänzerin aus, namens Bereyter. Wie sonderbar, daß man mit dreißig Jahren mehr Glück hat bei den Frauen als mit zwanzig, wie unerklärlich, daß sie leidenschaftlicher werden, je kühler man tut; jetzt beginnt auch Paris, das dem armen Studiosus so häßlich erschien, ihm langsam zu gefallen; wahrhaftig, das Leben wird schön. Und das Schönste: man hat Geld, und man hat Zeit, so viel Zeit sogar, daß man zu seinem Vergnügen, nur eigentlich, um sich an das geliebte Italien zu erinnern, ein Buch aus jener Welt schreibt, eine »Histoire de la peinture«. Ach, kunsthistorische Werke schreiben, das ist ja ein so angenehmes, unverbindliches Vergnügen, besonders, wenn man's, wie Henri Beyle, sich so bequem macht, sie zu drei Vierteln einfach aus andern Büchern abzuschreiben und bloß den Rest mit Anekdoten und Drolerien locker aufzufüllen: doch welches Glück schon, bloß als Genießer dem Geistigen nahe zu sein! Vielleicht, denkt Henri Beyle, könnte man einmal, wenn man alt wird, Bücher schreiben, um sich dieverlorene Zeit und die Frauen in Erinnerung einzufangen. Aber wozu schon jetzt: das Leben ist noch viel zu reich, zu füllig und zu schön, um es am Schreibtisch zu versäumen!
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1812 bis 1813. Kleine Störung: Napoleon führt wieder einmal Krieg, diesmal ein paar tausend Meilen weit. Aber Rußland, das abenteuerlich ferne Land, lockt den ewig neugierigen Touristen: welch einzige
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