Drei Dichter ihres Lebens
und begraben. Jedoch selbst mit Lauge überschüttet, mit Löschkalk von Geringschätzung übergossen, bleibt der zähe, rechenkalte, sachliche Bürgervater Beyle noch fünfzig Jahre lang unter Henry Beyles Haut lebendig und geistert weiter
in seinem Blut; fünfzig Jahre schlagen sich die Ahnen seiner beiden Seelenrassen, die Beyles und die Gagnons, der sachliche Geist und der romantische, noch unaufhörlich in ihm herum, ohne daß einer vermöchte, den andern vollkommen unterzukriegen. In einer Minute ist Stendhal seiner Mutter rechter Sohn, in der nächsten, oft in derselben noch, Sohn seines Vaters, bald schüchtern-timid, bald steinhart-ironisch, bald schwärmerisch-romantisch, bald wieder mißtrauisch-rechnerisch – sogar in dem flitzenden Intervall von Sekunde zu Sekunde schießen Heiß und Kalt zischend ineinander. Gefühl überschwemmt die Vernunft, Intellekt wieder staut brüsk die Empfindung. Niemals gehört dieses Gegensatzprodukt ganz der einen, nie ganz der andern Sphäre; und selten sind im ewigen Kriege zwischen Geist und Gefühl schönere Schlachten geschlagen worden als die große psychologische Bataille, die wir Stendhal nennen.
Gleich vorausgenommen aber sei: keine Entscheidungsschlacht, keine Vernichtungsschlacht. Stendhal ist nicht besiegt worden, nicht zerrissen von seinen Gegensätzen: vor jedem wahrhaft tragischen Schicksal schützt diese epikureische Natur eine gewisse ethische Indolenz, eine kalt beobachtende wachsame Neugierde. Ein Leben lang weicht dieser wache wesentliche Geist allen zerstörenden, allen dämonischen Mächten vorsichtig aus, denn das erste Gebot seiner Klugheit heißt Selbsterhaltung, und so wie er im faktischen, im Napoleonischen Kriege allezeit verstand, in der Nachhut zu bleiben, abseits vom Schuß, so wählt auch in seiner Seelenschlacht Stendhal lieber den gesicherten Standpunkt des Beobachters als den entschlossenen des Auf-Tod-und-Leben-Kämpfers. Ihm fehlt vollkommen jene letzte moralische Selbstpreisgabe eines Pascal, eines Nietzsche, eines Kleist, die jeden ihrer Konflikte zwanghaft zur Lebensentscheidung erhoben; er, Stendhal, begnügt sich, während er seinen Zwiespalt gefühlsmäßig erleidet, ihn von seiner geistigenSicherung her als ästhetisches Schauspiel zu genießen. Darum wird sein Wesen von seinen Gegensätzen niemals vollkommen durchrüttelt, und er haßt nicht einmal ernstlich diese seine Zweiheit, ja er liebt sie sogar. Er liebt seinen diamantschneidenden, präzisen Intellekt als etwas sehr Kostbares, weil er ihm die Welt verständlich macht. Aber andererseits liebt Stendhal auch den Überschwang seines Gefühls, seine Hypersensibilität, weil sie ihn absondert von der Dumpfheit und Stumpfheit des gemeinen Alltags. Ebenso kennt er auch von beiden Wesensenden die verbundene Gefahr, jene des Intellekts, gerade die erhabensten Augenblicke zu erkälten, zu ernüchtern, und jene des Gefühls, zu weit ins Verschwommene und Unwahrhaftige zu verlocken und damit die Klarheit zu zerstören, die ihm Lebensbedingnis ist. So möchte er am liebsten jeder der beiden Seelenarten die Eigenschaft der andern zulernen: unablässig bemüht sich Stendhal, sein Gefühl intelligenzhaft klarzumachen, die Vernunft wiederum zu verleidenschaftlichen – ein ganzes Leben lang romantischer Intellektualist und intellektueller Romantiker in ebenderselben gespannten und empfindlichen Haut.
Jede Formel Stendhals ergibt also immer eine zweistellige Zahl, niemals runde Einheit: nur in dieser Doppelweltigkeit erfüllt er sich ganz. Immer dankt er seine stärksten Augenblicke dem Ineinander und Nebeneinander seines urtümlichen Gegensatzes. »Lorsqu'il n'avait pas d'émotion, il était sans esprit«, sagt er einmal von sich, das heißt: er kann nicht gut denken, ohne gefühlsmäßig erregt zu sein, aber er kann wiederum nicht exakt fühlen, ohne den eigenen erregten Herzschlag sofort zu messen. Er vergöttert einerseits die Träumerei als die kostbarste Bedingung seines Lebensgefühls (»ce que j'ai le plus aimé, était la rêverie«) und kann doch nicht leben ohne ihr Gegenspiel, ohne die Wachheit (»Si je ne vois pas clair, tout mon monde est anéanti«). Genau wie Goethe einmal von sich bekennt, daß das, was man gemeinhin Genuß nenne, »für ihn immer zwischen Sinnlichkeit und Verstand schwebe«, so empfindet Stendhal nur dank der feurigen Durchmischung von Geist und Blut die sinnvolle Schönheit der Welt. Er weiß, daß nur der ständigen Reibung seiner Kontraste die
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