Drei Dichter ihres Lebens
seelische Elektrizität entstammt, jenes Prickeln und Funkeln in den Nervenbahnen, jene knisternde, spannende und aufstachelnde Lebendigkeit, die wir heute nochspüren, kaum daß wir ein Buch, ein Blatt Stendhals berühren; nur dank dieses Überspringens der Vitalität von Pol zu Pol genießt er die Kraftwärme, die schöpferische und lichtschaffende seines Wesens, und sein immer wacher Selbststeigerungsinstinkt setzt alle Leidenschaft daran, sich diese Weitspannung zu erhalten. Unter seinen zahlreichen außerordentlichen Beobachtungen in psychologicis äußert er einmal die vortreffliche, ebenso wie unsere Körpermuskeln ständiger Gymnastik bedürfen, um nicht zu erschlaffen, müßten auch die psychischen Kräfte unablässig geübt, gesteigert und durchgebildet werden: diese Vervollkommnungsarbeit hat Stendhal mit beharrlicherer Konsequenz als irgendein anderer geübt. Er hegt und pflegt beide Enden seines Wesens unablässig für den Erkenntniskampf mit der gleichen Liebe wie ein Künstler sein Instrument, wie ein Soldat seine Waffe; unablässig ist er mit dem Training seines seelischen Ichs beschäftigt. Um die Hochspannung des Gefühls, den »érectisme morale«, latent zu erhalten, heizt er seine Expansionsfähigkeit allabendlich in der Oper durch Musik an und agitiert sich noch als älterer Herr gewaltsam in immer neue Verliebtheiten hinein. Um seinem Gedächtnis, bei dem er Spuren von Schwäche wahrnimmt, zur Exaktheit zu verhelfen, legt er sich besondere Exerzitien auf, er schleift, wie jeden Morgen sein Rasiermesser, am Strange der Selbstbeobachtung seine Wahrnehmungsfähigkeit. Er sorgt mit Büchern und Gesprächen alltäglich für Zufuhr von »ein paar Kuben neuer Ideen«, er füllt, er erregt, er spannt und zügelt sich zu immer subtilerer Intensität; unablässig schärft er seinen Verstand, unablässig schmeidigt er sein Gefühl.
Dank dieser wissenden und raffinierten Technik der Selbstvervollkommnung erreicht Stendhal intellektuell sowohl als sensuell einen ganz ungewöhnlichen Grad seelischer Feinfühligkeit. Man muß schon jahrzehnteweit in der Weltliteratur zurückwandern, um ein ähnlich zartempfindliches und zugleich scharfgeistiges Sensorium zu finden, eine so dünnhäutige, nervenbebende Sinnlichkeit bei so wasserklarem und wasserkaltem Verstand. Aber freilich, nicht ungestraft hat man seine Nervenspitzen derart zart und vibrierend, dermaßen wissend und wollüstig knapp unter der Haut; Feinheit bedingt immer leichte Verletzlichkeit, und was für die Kunst Gnade, wird für die Künstler fast immer zurLebensnot. Wie leidet dieses überorganisierte Wesen Stendhal an seiner Umwelt, wie steht er fremd und verdrossen inmitten einer larmoyanten und pathetischen Zeit! Ein solches intellektuelles Taktgefühl muß jede Ungeistigkeit als Beleidigung, eine so romantische Seele die Dickhäuterei, die ethische Trägheit des Durchschnitts als einen Alpdruck empfinden; wie die Prinzessin im Märchen unter hundert Daunen und Decken die Erbse, so spürt Stendhal schmerzhaft jedes falsche Wort, jede verlogene Geste. Alles falsch Romantische, alles plump Übertreibliche, alles feig Verschwommene wirkt auf seinen wissenden Instinkt wie kaltes Wasser auf einen kranken Zahn. Denn sein Gefühl für Aufrichtigkeit und Natürlichkeit, sein geistiges Kennertum leidet gleicherweise am Zuviel und Zuwenig in jeder fremden Empfindung – »mes bêtes d'aversion, ce sont le vulgaire et l'affecté« – an dem Banalen ebenso wie am Preziösen. Eine einzige Phrase, zu übersüßt mit Gefühl oder aufgequollen in pathetischer Hefe, kann ihm ein Buch verderben, eine ungeschickte Bewegung das schönste erotische Abenteuer. Einmal betrachtet er ergriffen eine Napoleonische Schlacht: das mörderische Durcheinander, durchschüttert vom Donner der Kanonen, überglüht vom unverhofften Farbenspiel eines Sonnenunterganges in blutigen Wolken, wirkt auf seine künstlerische Seele unwiderstehlich wie ein Nervenrausch. Er steht da und zittert erregt in mitfühlenden Schauern. Da fällt es unglückseligerweise einem General neben ihm ein, dieses überwältigende Schauspiel mit einem großspurigen Wort zu bezeichnen »Eine Gigantenschlacht!« sagt er wohlgefällig zu seinem Nachbar, und sofort zerschmettert dieses eine plumppathetische Wort für Stendhal jede Möglichkeit der Mitempfindung. Hastig eilt er weg, den Tölpel verfluchend, erbittert, enttäuscht, beraubt; immer, wenn sein hyperempfindlicher Gaumen den geringsten Beigeschmack von
Weitere Kostenlose Bücher