Drei Dichter ihres Lebens
Phrase oder Verlogenheit im Ausdruck eines Gefühls spürt, revoltiert sein Taktgefühl. Unklares Denken, überschwengliche Rede, jedes Affichieren und Auswalzen der Empfindung verursacht diesem Sensibilitätsgenie sofort ästhetischen Brechreiz: darum kann er auch so wenig von aller Zeitgenossenkunst goutieren, weil sie damals besonders süß-romantisch (Chateaubriand) und pseudoheroisch (Victor Hugo) drapiert ist, darum erträgt und verträgt er so wenig Menschen. Aber diese exzessive Überempfindlichkeitwendet sich nicht minder gegen ihn selbst. Überall, wo er sich bei der winzigsten Empfindungsabweichung, bei einem unnötigen Crescendo, bei einem Hinüber ins Sentimentale oder bei einer feigen Verschwommenheit und Unehrlichkeit ertappt, schlägt er sich selbst wie ein strenger Schullehrer auf die Finger. Sein immer wacher und unerbittlicher Verstand schleicht ihm nach bis in die abseitigsten Träumereien und reißt ihm rücksichtslos alle Schamhüllen fort. Selten hat sich ein Künstler derart gründlich zur Ehrlichkeit erzogen, selten ein Seelenbeobachter so grausam seine geheimsten Abwege und Labyrinthe überwacht.
Weil er sich dermaßen kennt, weiß Stendhal selbst besser als jeder andere, daß diese übermäßige Sensibilität in Nerven und Geist sein Genie, seine Tugend ist und seine Gefahr. »Ce que ne fait qu'effleurer les autres me blesse jusqu'au sang«: was die anderen nur leise anstreift, das verletzt ihn, den Überempfindlichen bis aufs Blut. Und darum empfindet Stendhal die »Andern«, »les autres«, instinkthaft von Jugend an als den polaren Gegensatz zu seinem Ich, als Angehörige einer fremden Seelenrasse. Dieses Anderssein hat schon ganz früh der kleine linkische Knabe in Grenoble an sich gespürt, wenn er seine Mitschüler in gedankenloser Froheit herumpoltern sah, und noch schmerzlicher hat dies später der frischgebackene Unteroffizier Henri Beyle in Italien erfahren, der, neidisch und hilflos, sie nachzuahmen, die andern Offiziere bewunderte, wie sie die Mailänder Weiber kirre zu machen und großsprecherisch selbstbewußt ihre Säbel zu rasseln verstanden. Aber damals hatte er sich seines Zarterseins, seiner Verlegenheit und Feinfühligkeiten noch als eines männlichen Defektes, als einer kläglichen Minderwertigkeit geschämt. Jahrelang hat er versucht – höchst lächerlich und vergeblich! –, seine Natur zu vergewaltigen, dem lauten Pöbel laut nachzuprahlen, nur um diesen grobschlächtigen Gesellen ähnlich zu scheinen und ihnen zu imponieren. Erst allmählich, sehr mühsam, sehr schmerzhaft, entdeckt der Emotive in seinem unheilbaren Anderssein einen melancholischen Reiz: der Psychologe erwacht. Stendhal ist allmählich auf sich neugierig geworden und beginnt sich zu entdecken. Zunächst konstatiert er nur, daß er anders ist als die meisten, feiner organisiert, empfindlicher, hellhöriger. Keiner ringsum fühlt so leidenschaftlich, keiner denkt so klar, keiner ist so sonderbargemischt, daß er fähig ist, allorts das Feinste zu fühlen und trotzdem nicht das geringste im Praktischen zu erreichen. Zweifellos, es muß noch andere Menschen dieser merkwürdigen Spezies »être supérieur« geben, denn wie könnte er sonst Montaigne verstehen, diesen herben, grundklugen und für alles Breite, Grobe verächtlichen Geist, wenn es nicht seiner Art gemäß wäre, wie Mozart zu fühlen, wenn nicht gleiche Leichtigkeit der Seele in ihm waltete. So beginnt etwa mit dreißig Jahren Stendhal erstmalig zu ahnen, er sei nicht ein mißglücktes Exemplar Mensch, vielmehr ein besonderes, zugehörig jener seltenen, sehr edlen Rasse der »êtres privilégiés«, die da und dort eingesprengt in den verschiedensten Nationen, Rassen und Vaterländern ihr Vorkommen haben wie Edelsteine in gemeinen Konglomeraten. Er fühlt sich bei ihnen beheimatet (nicht bei den Franzosen, er wirft diese Zugehörigkeit weg wie ein zu eng gewordenes Kleid), in einem andern, unsichtbaren Vaterlande, bei Menschen mit viel feineren Seelenorganen und klügeren Nerven, die niemals sich zusammenrotten zu plumpen Haufen und geschäftigen Klüngeln, sondern nur ab und zu einen Boten in die Zeit senden. Ihnen allein, diesen »happy few«, diesen hellhörigen und feinäugigen, diesen geschwinden Verstehern, die lesen können ohne Unterstreichungen und jeden Wink und Augenblick aus Instinkt des Herzens verstehen – ihnen allein schreibt er, über sein eigenes Jahrhundert hinweg, seine Bücher zu, ihnen allein verrät er in
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