Drei Dichter ihres Lebens
solchen Übelstand, man wird eben einen Brückensteg für die Lebendigen über die Toten hinbauen. Dabei kann man freilich nicht umhin, ein paar Gräber umzugraben, und bei dieser Gelegenheit findet man in der vierten Reihe Nummer elf ein ganz verlassenesund verkommenes Grab mit kurioser Inschrift: »Arrigo Beyle, Milanese, visse, scrisse, amò.« Ein Italiener auf diesem Friedhof? Sonderbare Inschrift, sonderbarer Mann! Zufällig kommt aber irgendeiner vorbei und entsinnt sich, daß es einmal einen französischen Schriftsteller Henri Beyle gab, der so falschmelderisch bestattet sein wollte. Man gründet rasch ein Komitee, sammelt ein bißchen Geld, eine neue Marmortafel für den alten Grabspruch zu kaufen. Und so glänzt plötzlich der verschollene Name wieder über dem vermoderten Leib, 1888, nach sechsundvierzig Jahren der Vergessenheit.
Und kurioser Zufall, im gleichen Jahre, da man sich seines Grabes entsinnt und noch einmal den Leib aus der Tiefe holt, kramt ein junger polnischer Sprachlehrer, Stanislas Stryienski, der, nach Grenoble verschlagen, sich dort maßlos langweilt, einmal in der Bibliothek herum, sieht allerhand alte, verstaubte, handgeschriebene Folianten in der Ecke stehen, fängt darin zu lesen und sie zu dechiffrieren an. Je mehr er liest, um so interessanter wird ihm die Lektüre; er sucht, er findet einen Verleger; das Tagebuch, die Selbstbiographie Henri Brulard, der Lucien Leuwen treten ans Licht und damit zum erstenmal der wirkliche Stendhal. Mit Begeisterung erkennen seine wahren Zeitgenossen die brüderliche Seele, denn nicht seinen wirklichen und zeitnahen hatte er sein Werk zugedacht, sondern jenen der kommenden, der nächsten Generation. »Je serai célèbre vers 1880«, steht mehrmals in seinen Büchern, damals ein hilfloses Wort ins Leere, nun eine überraschende Wirklichkeit. Zur gleichen Weltstunde, da sein Leib exhumiert wird aus der Erde, erhebt sich sein Werk aus dem Schatten der Vergänglichkeit: genau bis auf das Jahr hat der sonst so Unglaubwürdige seine Auferstehung verkündet, Dichter immer und in jedem seiner Worte, in diesem einen aber auch Prophet
Ein Ich und die Welt
Il ne pouvait plaire, il était trop différent
Die schöpferische Zwiespältigkeit ist in Henri Beyle bereits von den Eltern hineingeboren; schon in ihnen passen zwei ungleichartige Hälften schlecht zusammen. Chérubin Beyle – man denke bei diesem Vornamen nicht an Mozart, beileibe nicht! – der Vater oder der »bâtard«, wie ihn Henri, sein erbitterter Sohn und Feind, immer boshafterweise nennt, repräsentiert vollumfänglich den zähen, geizigen, hartklugen, ganz zu Geld versteinerten Provinzbourgeois, wie ihn Flaubert und Balzac mit zorniger Faust an die Wand der Literatur geschleudert haben: von ihm erbt Henri Beyle nicht nur die Statur, die massig-fettleibige, sondern auch die egoistische Selbstbesessenheit in Hirn und Blut. Henriette Gagnon, die Mutter dagegen, kommt vom romanischen Süden her und auch psychologisch betrachtet aus Romanen. Sie könnte von Lamartine gedichtet sein oder von Jean-Jacques Rousseau sentimentalisiert: eine zärtlich-musikalische, gefühlsschwelgerische, südsinnliche Natur. Ihr, der Frühverstorbenen, dankt Henri Beyle seine Leidenschaft im Eros, den Überschwang im Gefühl, die schmerzliche und fast weibische Sensibilität der Nerven. Von diesen beiden widersetzlichen Strömungen im Blut unablässig hin und her gerissen, schwankt dies sonderbare Erzeugnis zwiespältiger Charaktere ein Leben lang zwischen Vatererbe und Muttererbe, zwischen Realismus und Romantik: immer wird er darum zwiefältig sein und doppelweltig, der künftige Dichter Henri Beyle.
Sympathetisch entscheidet sich der kleine Henri schon früh: er liebt die Mutter (ja sogar, wie er selbst zugibt, mit gefährlich passionierter Frühreife leidenschaftlicher Art), er haßt eifersüchtig und verächtlich den »father« mit einem spanisch kalten, zynisch verschlossenen, inquisitorisch nachspürenden Haß: kaum irgendwo findet die Psychoanalyse einen tadelloseren Ödipuskomplex literarisch hingelegt als in den ersten Seiten von Stendhals Selbstbiographie, im »Henri Brulard«. Aber diese vorzeitige Spannung wird jählings durchgerissen, denn die Mutter stirbt dem Siebenjährigen weg, und den Vater betrachtet der Knabe innerlich alsgestorben, sobald er, sechzehnjährig, mit der Postkutsche Grenoble verläßt: von diesem Tage an meint er ihn mit Schweigen, mit Haß und Verachtung in sich erledigt
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