Drei Eichen (German Edition)
Scheune stand seit Kurzem ein frisch restaurierter Mercedes 190 SL aus dem Jahre 1961. Der Lack war weitestgehend noch im Originalzustand, und sollte es einmal Schäden gegeben haben, dann hatte sie Roland Schurig professionell beseitigen lassen. Das bei Kennern gesuchte Cabriolet war ein Star unter den Oldtimern der Welt. Seine graugrüne Farbe kontrastierte aufs Schönste mit dem eleganten Chrom der Stoßstangen, der Scheinwerferfassungen und natürlich des großen schwäbischen Sterns am Kühlergrill. Ein Traum für jeden Sammler und in der Regel unerschwinglich. Für ein solches Fahrzeug war normalerweise der Preis eines kleinen Einfamilienhauses fällig, und auch Schurig hatte fast so viel dafür bezahlt. Trotzdem hatte es langjährigen Verhandlungen bedurft, bis Leo Aumüller, der Oldtimerpapst aus Schönbrunn im Steigerwald, ihm den Mercedes schließlich verkauft hatte.
Roland Schurig hatte jedoch nicht nur eins, sondern gleich mehrere Fahrzeuge dieser Art in seiner Scheune stehen, die auch mit Alarmanlage sowie einem Transportlift der neuesten Bauart in den ersten Stock ausgestattet war, damit er dort weitere Oldtimer unterbringen konnte. Der SL war allerdings mit Abstand das Glanzstück seiner Sammlung. Voller Stolz hatte er ihn in den letzten Tagen von allen Seiten bewundert, selbst heute war er mitten in der Nacht aufgestanden, um ihn im Schlafanzug zu betrachten. Gerade eben war er noch kurz vor Toresschluss im Wahllokal gewesen, aber noch während er sein Kreuzchen machte, dachte er schon wieder an den SL . Er hatte seinen Stimmzettel durch den Schlitz in die Box gesteckt und sich dann fast fluchtartig auf den Rückweg zu seiner Scheune in Hirschaid gemacht.
Für den normalen Tagesgebrauch hatte er sich einen 1800er BMW von 1972 zugelegt. Der zählte zwar schon als Oldtimer, aber wenn er den mal auf einen Pfosten setzte, würde es nicht die größte aller Katastrophen sein. Mit dem orangefarbenen BMW bog er in die Hofeinfahrt und stellte ihn an seinem Platz neben dem großen Scheunentor ab. Er musste die Rundungen seines neu erworbenen Mercedes einfach wieder in sich aufsaugen. Als er vor der Scheune stand und dabei war, das gesicherte Schiebetor zu öffnen, erfassten seine Augen jedoch etwas sehr Merkwürdiges. An der Holzverkleidung des Tores hing etwas, was so da nicht hingehörte. Schurig ließ das Tor geschlossen und schaute sich misstrauisch auf seinem Hof um. Niemand war zu sehen, auch auf der Straße stand kein Auto, von dem aus ihn jemand hätte beobachten können. Der Bauernhof von Roland Schurig lag am Ortsrand von Hirschaid. Er war das letzte Anwesen, bevor die Wiesen begannen.
Er drehte sich wieder um und betrachtete den kleinen Stein genauer, der an einer Art Paketschnur vom Torrahmen herunterhing. Verärgert riss er ihn mit einem kräftigen Ruck vom Tor. Er betrachtete ihn noch einmal, holte weit aus und warf ihn dann mitsamt seiner dämlichen Schnur über den Zaun in die angrenzende Wiese.
»Unverschämtheit«, fluchte er leise. Er war sauer, dass ihm irgend so ein Spaßvogel die Vorfreude auf seinen Oldtimer versaut hatte. Als er sich dem Tor erneut zuwandte, fiel ihm ein, dass er es ja gar nicht abgeschlossen hatte. In seiner Eile, das Wahllokal noch rechtzeitig zu erreichen, hatte er das glatt vergessen. Er war nur eine knappe halbe Stunde weg gewesen, aber sollte es in dieser Zeit etwa jemand gewagt haben, eines seiner Heiligtümer zu berühren oder gar zu beschädigen? Wütend und mit einer dunklen Vorahnung schob Schurig das Rolltor einen knappen halben Meter auf und zwängte sich ins Innere. Seine Hände tasteten sich nach links an der Scheunenwand entlang und betätigten den Lichtschalter. Die Lampen flammten auf, und eine große Erleichterung machte sich in ihm breit. Sein Glanzstück, der Mercedes, schien unversehrt zu sein, genau wie alle anderen seiner Fahrzeuge. Sicherheitshalber stieg er auf die Hebebühne des Lastenaufzuges, um in den oberen Stock zu fahren. Er würde jedes Auto einzeln inspizieren, nicht dass doch noch irgendwer etwas ausgebaut hatte. Der Aufzug hatte gut die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als plötzlich das Scheunenlicht erlosch und der Aufzug stehen blieb. Ein merkwürdiges Gefühl kroch Roland Schurig den Rücken hoch. Das konnte kein Stromausfall sein. Hier war vielmehr Gefahr im Verzug. Seine Vermutung wurde bestätigt, als er sah, wie ein Schatten durch den schmalen Spalt der geöffneten Scheunentür trat.
»Was wollen Sie, wer sind Sie?«,
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