Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski
Seele. Es fehlen ihnen die Ruhepunkte der Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten Entspannungen, die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist das Schattenhafte in seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend und Dunkelheit heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.
Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der vonSchatten. Damit sei nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl, Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses Blut durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich an. Auf den zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. Nie sind sie vegetativ, pflanzlich, tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt, gespannt, und immer, immer wach. Wach und sogar überwach. Immer im Superlativ ihres Seins. Alle haben sie die seelische Übersichtlichkeit Dostojewskis, alle sind sie Hellseher, Telepathen, Halluzinanten, alle pythische Menschen, und alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres Wesens von psychologischer Wissenschaft. Im gemeinen, im banalen Leben stehen – erinnern wir uns nur – die meisten Menschen im Konflikt mit einander und dem Schicksal einzig darum, weil sie sich nicht verstehen, weil sie einen bloß irdischen Verstand haben. Shakespeare, der andere große Psychologe der Menschheit, baut die Hälfte seiner Tragödien auf diese eingeborene Unwissenheit, auf dieses Fundament von Dunkel, das zwischen Mensch und Mensch als Verhängnis, als Stein des Anstoßes liegt. Lear mißtraut seiner Tochter, denn er ahnt ihren Edelmut nicht, die Größe der Liebe, die sich hier in Schamhaftigkeit verschanzt, Othello wiederum nimmt sich Jago als Einflüsterer, Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie dem wahren Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei Shakespeare wird wie im realen Leben das Mißverständnis, die irdische Unzulänglichkeit, zeugende tragische Kraft, die Quelle aller Konflikte. Die Menschen Dostojewskis aber, diese Überwissenden, sie kennen kein Mißverstehen. Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen einanderrestlos bis in die letzten Tiefen, sie saugen sich das Wort aus dem Munde, noch ehe es gesagt ist, und den Gedanken noch aus dem Mutterleib der Empfindung. Das Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen überentwickelt, alle sind sie Propheten, alle Ahnende und Visionäre, überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen Durchdringung des Seins und des Wissens. Ich will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein. Nastassja Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück, weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar Monate voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß es, auch er kennt das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht. Und gleicherweise beim Morde Fedor Karamasows ist das Wissensunmögliche allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er das Verbrechen wittert, selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt seines Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt, auch sein Gefühl weiß es, daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan fährt nach Tschermaschnjä, um nicht Zeuge des Verbrechens zu sein.
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