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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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einen Straßennamen in einen Tango ein?
    Zehn Minuten später hatten sie das Viertel erreicht. Almagro, stand in ihrem Stadtplan. Daher der Name dieses Tango-Clubs, wo sie vorgestern gewesen war. Er lag auch hier in der Nähe. Sollte Damián keinen Steinwurf von diesem Club entfernt seine Wohnung haben? Das Taxi fuhr wieder rechts heran, und der Fahrer drehte sich nach ihr um.
    »Aqui?«, fragte er.
    Giulietta schwieg und schaute angestrengt aus dem Fenster. Aber was gab es da schon zu sehen. Eine Wäscherei. Einen Video-Shop. Die üblichen Imbissbuden, Lotteriestände, Elektroläden, Kioske. Was hatte sie bloß erwartet? Sie zögerte. Sollte sie aussteigen? Zu Fuß gehen? Gab es vielleicht irgendwo ein Schild mit dem Aufdruck Esma? Das Taxameter stand auf neun Pesos. Der Fahrer schaute sie noch immer erwartungsvoll an. Er wird mich für verrückt halten, dachte sie. Vielleicht war sie es auch so langsam. Verrückt. Loco. Doch was hatte sie denn schon zu verlieren außer der Illusion, dass Damiáns rätselhafte Chiffren sie vielleicht zu ihm führen könnten. Sie schaute auf ihren Notizblock, als habe sie dort eine Adresse notiert, blickte dann dem Fahrer in die Augen und sagte: »Esma. I am looking for Esma.«
    Die Reaktion war bemerkenswert. Erst verzog er den Mund, als habe er gerade auf ein Senfkorn gebissen. Er drehte die Augen zum Himmel und schlug plötzlich mit der Hand gegen das Lenkrad. Dann spuckte er einen Satz aus: »A la mierda!«
    Den Rest verstand sie nicht. Der Mann drehte sich fluchend um und legte krachend den Gang ein. Er fuhr scharf an. Die Reifen quietschten kurz und übertönten kurzzeitig den unverständlichen spanischen Wortschwall. Einen Augenblick lang hatte sie Angst gehabt. Aber immerhin fuhr der Mann, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wohin.
    Damiáns Chiffren waren überhaupt kein Geheimnis. Es waren Orte in Buenos Aires. Letzterer offensichtlich ein nicht sehr beliebter. Oder wie sollte sie die seltsame Reaktion des Taxifahrers interpretieren? Einige Augenblicke lang spürte sie ein Hochgefühl. Sie fühlte sich Damián näher. Sie hatte eine Spur gefunden, auch wenn die erste Station nichts ergeben hatte. Eine Straße. Sie könnte nachher zurückkommen und schauen, ob sie nicht irgendeinen Anhaltspunkt fand. Doch diese Stimmung hielt nicht lange an. Sie steckten wieder im Verkehr fest, der Taxifahrer fluchte noch immer leise vor sich hin und schaute wiederholt in den Rückspiegel. Sein Gesichtsausdruck wandelte sich allmählich von abweisend zu finster. Wenn sie nur diese Sprache sprechen könnte!
    Die rote Digitalanzeige neben dem Rückspiegel stieg auf achtzehn, auf neunzehn, auf zwanzig Pesos. Was immer Esma war, es befand sich ziemlich weit draußen. Sie hatte restlos die Orientierung verloren. Die Straße war mittlerweile sechsspurig und schlängelte sich durch ein Stadtgebiet, das bereits erste Anzeichen von Industriebebauung aufwies. Zuvor waren sie noch an einem Golfplatz vorbeigekommen, doch jetzt wurde die Umgebung ungemütlich. Der finstere Blick des Fahrers, der immer wieder durch den Rückspiegel auf sie zuflog, verstärkte die düsteren Eindrücke links und rechts der Straße noch. Der Verkehr war völlig chaotisch. Von allen Seiten strömten Fahrzeuge auf diese Straße, die allmählich die Ausmaße einer richtigen Autobahn annahm. Wo fuhr der Mann sie nur hin?
    Bei siebenundzwanzig Pesos hielt der Wagen endlich. Die Art und Weise, wie er zum Stehen kam, signalisierte unmissverständlich, dass der Fahrer sie aus dem Wagen heraushaben wollte. Er bellte irgendetwas und klopfte mit dem Finger auf den rotglimmenden Fahrpreis. Giulietta gab ihm dreißig Pesos und beeilte sich, den Wagen zu verlassen. Sie kam nicht einmal mehr dazu, die Tür zu schließen. Sie war kaum ausgestiegen, da fuhr das Taxi so schnell an, dass die Tür durch den Ruck von selber ins Schloss fiel.
    Giulietta schickte dem Wagen einen stillen Fluch hinterher. Dann schaute sie sich um. Die Gegend war nun wieder etwas feiner geworden. Die gegenüberliegende Straßenseite war von eleganten Appartementhäusern gesäumt. Sie ließ ihren Blick über die Fassaden gleiten, drehte sich dann um und musterte ihre unmittelbare Umgebung. Hinter ihr erstreckte sich ein weitläufiger Gebäudekomplex in einer parkartigen Anlage. Warum der Taxifahrer sie hier abgesetzt hatte, konnte sie sich nicht erklären. Fußgänger gab es keine. Nur Tausende von Autos, die knatternd und qualmend an ihr vorüberfuhren. Sie hätte

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