Drei Minuten mit der Wirklichkeit
zurückzuholen. Und nach einer Tasse Kaffee und einem Gespräch voller Ungereimtheiten hatte sie eingewilligt. Ein gehöriger Aufwand für solch einen leichten Sieg. Warum war er gekommen? Was steckte wirklich dahinter? Ihr Vater kannte sie doch. Sie wäre von selbst zurückgekommen. Er wusste doch, was Ballett ihr bedeutete. Hatte es dieses Treffens am Ende der Welt bedurft, um ihre komplizierte Geschichte zu besprechen? Hätte das nicht auch in Berlin geschehen können?
Warum tat er so, als verstehe er kein Spanisch? Warum verstand er Spanisch? Sie starrte auf den schwarzen Lederbezug des Vordersitzes, heftete ihre Augen auf den Ausweis des Taxifahrers, der dort hing. Sie las den Namen des Mannes, sein Geburtsdatum, die Nummer der Lizenz. Was wusste sie eigentlich über ihren Vater? Sein Leben in der DDR ? Hatte er dort in der Schule Spanisch gelernt und einfach nie davon erzählt? Sie waren nie nach Spanien in Urlaub gefahren. Immer nur nach Italien, Anita wegen. Einmal Griechenland, einmal Jugoslawien, als es noch existierte. Sonst immer Italien. Ihr Vater war 1976 aus der DDR herausgekauft worden. Da war er neunundzwanzig Jahre alt gewesen. Über seine Kindheit und Jugend wusste sie nichts. Er sprach nicht darüber, und niemand in der Familie machte ihm dafür einen Vorwurf. In Wirklichkeit interessierte sich auch kaum jemand für Einzelheiten. Das Thema war für alle unangenehm. Anita hatte einige Male insistiert und herausfinden wollen, aus was für einer Familie er eigentlich stamme. Aber er hatte nie etwas erzählt. »Kommunisten«, sagte er nur. »Geistesgestörte. Und Feiglinge.« Offenbar war er der einzige Andersdenkende in seinem Umfeld gewesen. Wahrscheinlich hatte er also in der Schule Spanisch gelernt. Doch warum verbarg er das vor ihr?
Das Taxi rumpelte die Calle Cochabamba hinauf, vorbei an heruntergekommenen, rissigen Häuserfassaden, ockerfarbenen, verwitterten Hauswänden, abbröckelnden Simsen und verrosteten Balkongittern. Ein heißer Wind blies durch das Fenster hinein. Es roch abwechselnd nach Abgasen und gebratenem Fleisch. Man würde diese Stadt auch mit geschlossenen Augen sofort erkennen.
Als sie vor Lindseys Haus ankam, traten gerade zwei Frauen und zwei Männer aus dem Eingang. Giulietta bezahlte schnell und erreichte die Tür noch, bevor der Letzte der vier sie zuzog. Sie erklärte rasch auf Englisch, dass sie zu Lindsey wolle, was das Misstrauen in den Gesichtern der vier allerdings nicht minderte. Ein kurzer Wortwechsel zwischen dem jüngeren Paar signalisierte ihr, dass hier Tangotänzer aus Bayern vor ihr standen, und sie erklärte ihr Anliegen noch einmal auf Deutsch. Jetzt verschwand das Misstrauen. Stattdessen machte sich eine gewisse Enttäuschung in den Gesichtern breit, als fühlten die vier sich unangenehm davon berührt, in diesem gottverlassenen Winkel von San Telmo eine Deutsche zu treffen. Giulietta benutzte den kurzen Augenblick der Überraschung, um durch die Tür in den Innenhof zu gelangen.
Lindseys Zimmertür war angelehnt, aber auf Giuliettas Klopfen gab es keine Reaktion. Sie ging in die Küche. Dort standen halb leere Kaffeetassen auf dem Tisch, doch es war niemand zu sehen. Pablos Geigenkoffer stand nicht neben der Eckbank, ein sicheres Anzeichen dafür, dass auch er ausgegangen war. Sie kehrte zu Lindseys Zimmer zurück, öffnete die Tür ein wenig und spähte hinein. Das übliche Chaos. Nur das Bett war noch zerwühlter als sonst. Ihr Blick fiel auf die Stapel Videokassetten und die Notizblätter. Der Bogen, den Lindsey gestern in der Küche voll geschrieben hatte, lag auf dem Schreibtisch.
Lambare. Esma. Lapiz
las sie. Und darunter
nosoyalsina
,
paraluisa
. Sie stand unschlüssig einige Augenblicke davor. Dann zog sie kurz entschlossen die Videokassette, die Lutz ihr aus Berlin geschickt hatte, aus ihrer Handtasche, legte sie gut sichtbar auf den Tisch und schrieb eine kurze Nachricht. Schließlich steckte sie das Blatt mit den seltsamen Wörtern und Zeichen ein und verließ das Haus.
Sie hielt ein Taxi an und nannte die Adresse ihres Hotels. Ihre Stimmung verdüsterte sich zunehmend. Es musste die Musik im Radio sein, ein melancholischer Tango, einer von den Tausenden, deren Titel sie nie kennen würde. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, massierte ihre Schläfen und versuchte, sich zu beruhigen. Was war schon an ihm? Wie viele gut aussehende, charmante Männer gab es. Laufend kam ein neuer dazu, der sich um sie bemühte. Nur eine Frage der
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