Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Zeit, bis einer auftauchen würde, um sie von ihrer lähmenden Schwermut zu befreien. Dieser Kummer war wie ein Loch in ihr, ein toter Fleck in ihrer Lunge, ein Vakuum in ihrem Unterleib, das in ihren ganzen Körper ausstrahlte und sie an nichts anderes denken ließ als an seine Hände, seine Lippen, seine Augen und den Klang seiner Stimme. Warum ging das nicht weg? Wie war es möglich, dass sie so auf ihn fixiert war? Jetzt noch. Nach allem, was geschehen war? Warum interessierte sie keiner der Blicke, die andere Männer ihr hinterherschickten? Allein der Gedanke, einen anderen Mann zu berühren, verursachte ihr Übelkeit. Und das machte sie wütend und verzweifelt. Warum war dies so? Was war denn nur so besonders an ihm? Sein Aussehen vielleicht? Nein, das war es nicht gewesen. Sie hatte sich zunächst gar nicht in sein Äußeres verliebt, sondern in seinen Tanz, in seine Bewegung. Doch war das eine vielleicht vom anderen zu trennen?
How can we know the dancer from the dance?
Der Satz stand in der Umkleide der Ballett-Schule an der Wand über den Kleiderhaken. Irgendjemand hatte diese seltsame Frage vor Jahren mit Filzstift auf den Putz geschrieben. Eine weibliche Schrift. Die Zeile stammte offenbar aus einem Gedicht. W. B. Yeats, stand darunter. Giulietta hatte diesen Satz immer gemocht, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Jetzt, während sich das Taxi die Avenida 9. de Julio hinabquälte, Stoßstange an Stoßstange im Feierabendverkehr, an Grünstreifen vorbei, auf denen Obdachlose ihre Wäsche an den Bäumen zum Trocknen aufgehängt hatten, spürte sie auf einmal, dass es eine rhetorische Frage war. Das Fragezeichen am Ende war ironisch gemeint.
We cannot know the dancer from the dance!
Das war der eigentliche Sinn dieses Satzes. Ein Tänzer und sein Tanz waren unauflöslich miteinander verbunden, untrennbar eins. Ohne den Tänzer konnte es den Tanz nicht geben und umgekehrt. Man wüsste gar nichts davon. Die banale Einsicht erschien ihr plötzlich geheimnisvoll. Damián war diese besondere Art, Tango zu tanzen. Er war darin aufgehoben. Aber was war er? Wie konnte sie das bloß herausfinden? Nur über seinen Tanz. Seine Chiffren. Doch sie waren ihr versperrt. Sie verstand sie nicht. Niemand verstand sie.
Niemand?
Sie faltete das Blatt auf, das sie bei Lindsey eingesteckt hatte, und betrachtete die Zeichen, welche die Kanadierin aus den Choreografien der Jahre 1997 und 1998 herausanalysiert hatte.
Lambare. Esma. Lapiz
? Was sollte das bloß bedeuten?
Lapiz
? Daran erinnerte sie sich noch. Das war eine Tangofigur. Aber welchen Sinn hatte es, Wörter zu tanzen?
Das Taxi hielt an einer roten Ampel. Sie erkannte die Straßenmündung der Calle Bartolomé Mitre wieder. In ein paar Minuten wäre sie in ihrem Hotel. War es ihre Verzweiflung oder hatte das Wort sich einfach so aus ihr herausgeschlichen wie ein letzter Hilferuf, ein sinnloser Aufschrei gegen ihre Machtlosigkeit?
Sie sagte einfach laut: »Lambare.«
Der Fahrer drehte sich um und schaute sie neugierig an.
»Calle Lambaré?«, fragte er.
25
C alle Lambaré?«, wiederholte Giulietta verblüfft.
Dann lachte sie verwirrt. War sie in ein Märchen geraten? Mutabor. Sesam öffne dich. Kalif Storch und Ali Baba.
Eine Straße! Es war eine verdammte Straße!
Hinter ihnen wurde gehupt. Der Fahrer lenkte den Wagen an den Straßenrand. Dann drehte er sich wieder zu ihr um. »Estas segura. No quieres ir a Bartolomé Mitre?«
Sie verstand nur Bartolomé Mitre und schüttelte den Kopf. »No. Lambaré«, stammelte sie. »Por favor. Lambaré.«
Er zuckte mit den Schultern, setzte den Blinker und fädelte sich in den Verkehrsstrom ein. Giulietta kauerte auf ihrem Sitz und versuchte, ihre Nervosität unter Kontrolle zu halten.
Eine Straße!! Eine verfluchte Straße. Warum hatte Lindsey ihr das nicht gesagt? Oder wusste sie das vielleicht gar nicht? War
Esma
vielleicht ein Nachname, oder ein Hinweis auf eine Adresse oder auf ein Gebäude oder einen Club? Sie würde es gleich herausfinden, wenn sie diese Straße erreicht hätte. Sie zog ihren Stadtplan aus der Handtasche und fand die Straße mühelos im Index. Sie lag etwa zwanzig Blocks nördlich ihres Hotels. Sie würden die Calle Cordoba hinauffahren und direkt daraufstoßen. Es war eine relativ kurze Straße. Nur sieben Blocks lang. Siebenhundert Meter. Mein Gott, sie könnte zur Not jeden einzelnen Hauseingang überprüfen. Aber sollte sie das tun? Was erwartete sie sich bloß davon? Warum baute Damián
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