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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Wildnis keine Wildnis war.
    Der Tag in der Natur war dennoch eine Erholung gewesen. Sie sprachen wenig und vermieden alle Fragen, die unausgesprochen im Raum schwebten. Am Nachmittag fuhren sie mit der Küstenbahn zurück, gönnten sich eine Siesta und waren danach beide so müde, dass sie beschlossen, im Hotel zu Abend zu essen und früh zu Bett zu gehen. Giulietta hatte noch einmal bei Lindsey angerufen, aber sie war nicht zu Hause. Vermutlich war sie bereits wieder in irgendeiner Tango-Bar unterwegs. Das Heft mit ihren ganzen Unterstreichungen besaß Giulietta noch.
Torquato Tasso
war am Freitag eingekringelt. Mit Orchester. Los Reyes del Tango. Gegen zwei Uhr morgens. Das Lokal war sogar gleich bei Lindsey um die Ecke. Zehn Taximinuten von Giuliettas Hotel entfernt.
    Aber sie war nicht mehr hingegangen. Von Tango hatte sie genug. Jetzt starrte sie aus dem Fenster auf das diffus werdende Häusermeer. Antennen und Satellitenschüsseln dominierten das Bild. Es war elf Uhr morgens. Ein strahlender Tag. Vierunddreißig Grad hatte sie irgendwo auf einer Anzeige gelesen. Hochsommer am vierten Dezember. Die Welt stand auf dem Kopf. Nicht ihre Welt.
    Die Erinnerung an diesen unbekannten Verfolger spukte noch immer in ihr herum. Den ganzen gestrigen Tag hatte sie immer wieder aufmerksam in ihre Umgebung gespäht, ihn aber nirgends ausmachen können. Am Morgen, auf dem Weg zur Busstation, die nur zwei Wegminuten vom Hotel entfernt war, hatte sie Herzklopfen gehabt. Sie fühlte sich beobachtet. Aber das musste Einbildung sein. Als sie im Bus saß und durch das Fenster die Plaza San Martin betrachtete, vermeinte sie plötzlich, das Profil des Mannes in einem an der Ampel stehenden Wagen erkannt zu haben. Aber der Wagen fuhr an und verschwand im Kreisverkehr, ohne dass sie einen richtigen Blick auf den Fahrer hätte werfen können. Fast hätte sie aufgeschrien, als ein Fahrgast an ihr vorüberkam, dessen Profil sie an den Fremden erinnerte. Und da war ihr klar geworden, dass sie kurz davorstand, hysterisch zu werden.
    Sie schielte kurz zu ihrem Vater hinüber. Er studierte die Flugtickets. Irgendwie hatte er es fertig gebracht, sie beide in die gleiche Maschine zu buchen, obwohl sie gar nicht mit der gleichen Fluggesellschaft geflogen waren. Angeblich war jetzt alles in Ordnung, auch wenn er am Flughafen noch etwas nachbezahlen musste.
    Der Bus war spärlich besetzt. Giulietta zählte acht Fahrgäste. Es gab überhaupt viel Platz in diesem Land. Man musste nur aus der verfluchten Stadt heraus. Die letzten Häuser verschwanden, und dahinter dehnte sich plötzlich das flache Land kilometerweit ins Nichts. Darüber hing ein leerer Himmel. Aber die Leere war eigentlich noch schlimmer als das Chaos und Gedränge in der Stadt. Recht besehen war hier alles schrecklich!
    Es dauerte fast eine Stunde, bis ihr Vater die Umbuchungsformalitäten am Flughafen erledigt hatte. Giulietta schlenderte unterdessen in der Abflughalle umher. Sie vermisste ihre Mutter und freute sich darauf, sie wieder zu sehen. Sie hatte ein starkes Bedürfnis danach, mit ihr zu sprechen. Ganz in ihrem Inneren machte sie ihr Vorwürfe. War sie nicht für das ganze Unheil mit verantwortlich? Hätte sie nicht längst sehen müssen, was sich da angebahnt hatte? War sie vielleicht blind gewesen? Oder eifersüchtig? Hatte sie sich bewusst herausgehalten, um sie zu quälen? Oder wagte sie nicht, ihrem Mann gegenüber Stellung zu beziehen? Was für eine Beziehung hatten ihre Eltern überhaupt zueinander?
    Sie kaufte nichts, ließ sich auf einer der Wartebänke nieder und schaute ihrem Vater zu, der noch immer mit einem Angestellten der Fluggesellschaft verhandelte. Dann unterschrieb er etwas und bekam endlich die Bordkarten. Er drehte sich um, winkte ihr zu und lachte zufrieden.
    »Mein Gott, die sind ja noch bürokratischer als wir«, sagte er, als er herangekommen war. »Hältst du bitte mal.«
    Er reichte ihr die Reisedokumente und seine Aktentasche und verschwand. Giulietta nahm wieder Platz. Wann flogen sie eigentlich? Sie öffnete eins der beiden Kuverts, in denen allerlei Papiere steckten. Sie zog sie heraus. Ein gefaltetes Blatt enthielt die Reiseroute. Buenos Aires – Rio de Janeiro – Paris – Berlin. Er hatte sie auf Air France umgebucht. Paris, dachte sie. Das klang wie ein fremder Stern. Sie musterte die Bordkarte. Battin, M., Mr. 8B. Sie hatte seinen Umschlag erwischt. Hinter der Bordkarte spürte sie ein weiteres Dokument. Sie drehte die Karte um,

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