Drei Minuten mit der Wirklichkeit
ohnehin niemanden mehr etwas fragen wollen. Die Reaktion des Taxifahrers steckte ihr noch in den Gliedern. Der Park mit den Pavillons neben ihr sah nicht sehr viel versprechend aus. Sie beschloss, auf der anderen Straßenseite an den Gebäuden entlangzugehen. Vielleicht fand sich dort ein Hinweis auf Damiáns Rätselwörter. Möglicherweise hieß dieser Stadtteil so?
In einiger Entfernung sah sie eine Fußgängerampel. Sie schulterte ihre Handtasche und machte sich auf den Weg. Ein Straßenschild brachte sie auf den Gedanken, im Stadtplan nachzuschauen, wo sie sich überhaupt befand. Sie war im achttausender Block der Avenida del Libertador gelandet. Laut Stadtplan bedeutete das, dass sie schon fast an der Stadtgrenze angekommen war. Sie musterte die Eintragungen und versuchte, die Straßennamen der näheren Umgebung zu entziffern. Ruiz Huidobro. Correa. Ramallo. Das Areal mit den Pavillons direkt neben ihr war als Escuela de Mecanica de la Armada verzeichnet. Sie ging ein paar Schritte weiter. In der Entfernung sah sie ein paar Uniformierte zwischen den Gebäuden verschwinden. Die argentinische Fahne flatterte im Wind. Dann erkannte sie hier und da Wachposten. Offenbar handelte es sich um eine Kaserne.
Wenige Augenblicke später hatte sie das Rätsel gelöst. E. S.M. A., las sie auf einem Messingschild, das neben dem Haupteingang zu diesem Gebäudekomplex an der Mauer angebracht war. Escuela de Mecanica de la Armada. Giulietta stand ratlos vor diesem Schild. Hinter ihr wälzte sich der Verkehr aus der Stadt hinaus. Abgase hüllten sie ein. Eine leichte Übelkeit überfiel sie. Sie holte ein Taschentuch hervor, hielt es sich schützend vor den Mund und setzte ihren Weg fort. Ihr wurde übel, und als sie die Ampel endlich erreicht hatte, kamen auch noch stechende Kopfschmerzen dazu. Sie überquerte die Straße, betrat ein Café, bestellte Wasser und trank gierig ein ganzes Glas leer. Dann wartete sie, bis ihre Schwäche sich ein wenig gelegt hatte. Die Kopfschmerzen ließen ein wenig nach. Nur die Übelkeit blieb. Sie saß dort, den Kopf gegen die Holzvertäfelung gelehnt, die Augen halb geschlossen. Ein Satz von Lindsey ging ihr durch den Kopf. Man muss Sinnhaftes von Sinnlosem trennen. Aber war bei Damián nicht alles sinnlos? Er war verrückt, eingeschlossen in seine eigene, rätselhafte Welt. Allein. Allein. Das Wort fand ein unheimliches Echo in ihr. Wasser. Sie musste sich das Gesicht waschen.
Der Eingang zu den Toiletten befand sich neben der Bar. Sie schaffte es gerade noch in den Waschraum, bevor ein Schwächeanfall sie fast in die Knie gehen ließ. Sie stützte sich am mittleren Waschbecken auf und sah im Spiegel, dass ihr Gesicht aschfahl und von Schweißperlen überzogen war. Ob sie einen Hitzschlag hatte? Übelkeit und Kopfschmerzen. Nein. Das war ihr Magen. Wahrscheinlich das fremde Essen. Sie beugte sich über das Waschbecken und begann damit, sich das Gesicht zu waschen. Das kalte Wasser tat ihr gut. Dann schoss plötzlich bittere Galle durch ihre Kehle, und sie erbrach sich. Sie atmete schwer, würgte noch einmal und schloss die Augen, um den übel riechenden Brei nicht sehen zu müssen, der sich in das Waschbecken ergoss. Sie atmete schwer, wartete, ob ihre Verkrampfung nachlassen würde, spürte jedoch, dass sie andauern würde, und half schließlich nach, indem sie ihren Zeigefinger tief in den Hals steckte. Wie früher, dachte sie noch, wie früher zu Wochenbeginn.
Sie verbrachte fast eine halbe Stunde in der Toilette. Noch Monate später erinnerte sie sich an alle Einzelheiten des Raumes, die Farbe der Kacheln, die Form der Waschbecken, das flackernde Licht der Neonröhre an der Decke. Sie erinnerte sich daran, weil sie diesen Raum in der Überzeugung betreten hatte, dass ihre Suche zu Ende war, dass es auf ihre Fragen keine Antwort gab. Deshalb hatte sie sich übergeben. Deshalb hatte ihr Körper sich gereinigt. Sie hatte sich damit abgefunden. Endgültig. Sie wusste es noch nicht. Aber ihr Körper wusste es.
Und dann, mitten in dieser letzten Reinigung, die den Wahnsinn der letzten Wochen von ihr nehmen sollte, war für den Bruchteil einer Sekunde die Tür zum Toilettenraum aufgegangen. Sie hatte kaum aufgeblickt. Nur unmerklich aus den Augenwinkeln zur Tür geschaut, um zu sehen, wer da soeben den Raum betrat. Aber niemand betrat den Raum. Es war nur jemand gekommen, der nachsehen wollte, wo sie so lange blieb. Seltsamerweise erschrak sie nicht gleich. Diese Erscheinung war so
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