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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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unwirklich. Erst Sekunden später begann sie plötzlich zu zittern, als sie erkennen musste, dass sie seit ihrer Ankunft in Buenos Aires keinen Schritt getan hatte, ohne von einem Mann verfolgt zu werden, der sich nun offenbar nicht einmal mehr besondere Mühe gab, seine Nachstellungen diskret zu halten. Es war der Mann aus dem Flughafenbus. Der Mann mit den blinzelnden Augen, der sie in der Confitería Ideal beobachtet hatte.
    Ihr langes Verweilen im Waschraum dieses Cafés hatte ihn offenbar verunsichert. Nein. Verunsicherung war kein Begriff, der zu diesem Gesicht passte. Verärgerung und Überdruss hatte sie auf diesem Gesicht gesehen. Gepaart mit einem kurzen Erschrecken darüber, dass sie aufgeschaut und dieses Gesicht wieder erkannt hatte, wie damals in der Confitería Ideal. Sie bekam solche Angst, dass sie losschrie, so gellend, dass die Tür sich sofort wieder schloss. Wenige Augenblicke später riss der Besitzer des Cafés die Tür auf. Sie stammelte etwas auf Englisch, entschuldigte sich, zeigte auf ihren Bauch und sagte zweimal »Taxi«. Ihr Verfolger war wie vom Erdboden verschluckt. Das Taxi kam, sie stieg ein und fuhr ins Zentrum zurück. Sie schaute ängstlich aus dem Heckfenster auf die hinter ihr fahrenden Wagen. Sie war sich sicher, dass er sie noch immer verfolgte. Kein Mensch hätte ahnen können, dass sie heute hier an die Stadtgrenze fahren würde, um eine Kaserne anzustarren. Der Mann war auf Schritt und Tritt hinter ihr her. Aber warum nur? Wer war er?
    Als sie ihr Hotel betrat, zitterte sie noch immer vor Angst. Keinen Schritt wollte sie mehr allein gehen. Sie rief ihren Vater an, der glücklicherweise in seinem Zimmer war, und bat ihn, ihr in seinem Hotel ein Zimmer zu reservieren. Sie wollte in seiner Nähe sein. Sie wollte seinen Schutz. Er schlug vor, sie abzuholen. Sie willigte ein und nannte ihm ihre Adresse. Was mit Damián sei? Mit ihrer Verabredung? Geplatzt, log sie. Damián. Was interessierte sie jetzt noch Damián. Sie wollte nur noch weg von hier. Zwanzig Minuten später hatte sie gepackt. Sie bezahlte ihre Rechnung und wartete. Als er geklingelt hatte, fuhr sie ein letztes Mal mit dem schmiedeeisernen Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Das Treppenhaus erinnerte sie jetzt ein wenig an die alten Mietshäuser in Charlottenburg. Nur lagen hier keine Läufer auf dem Marmor. Man sah nur noch die Messingringe an den Stufen, welche wohl einst die Arretierstangen gehalten hatten. Alles in dieser Stadt war kaputt oder am Zusammenbrechen.
    Sie hatte hier nichts mehr verloren.

26
    I hre Haut spannte, obwohl sie sich am Morgen zweimal mit Salbe eingerieben hatte. Der Flughafenbus schnaufte soeben die Rampe hinauf, von welcher sie bei ihrer Ankunft den ersten Blick auf diese Stadt geworfen hatte. Aber der Gedanke erfüllte sie mit keinerlei Wehmut oder Bedauern. Sie spürte Erleichterung. In den Straßen dort unten war sie herumgeirrt. Wozu eigentlich? Sie drückte etwas Salbe in ihre Handfläche und rieb erneut ihre Stirn und Wangen ein.
    Der Ausflug ins Tigre-Delta hatte ihr einen Sonnenbrand beschert. Ihr Vater hatte darauf bestanden. Hätten sie den ganzen Freitag in der Stadt herumsitzen sollen? Am Ende genoss sie die Bootsfahrt den Rio de la Plata hinauf und den anschließenden Spaziergang durch die malerischen Gässchen der verträumten Vorstadt, vorbei an Häusern im Kolonialstil, die wegen der Hochwassergefahr zumeist auf Stelzen gebaut waren. Sie waren am Rio Lujan entlangspaziert, der hier in den Rio de la Plata mündete. Das Delta strahlte einen leicht morbiden Reiz aus. Auf der gegenüberliegenden Uferseite lagen verrostende Hochseefischkutter in der Sonne. Die gewaltigen Metallrümpfe leuchteten grell orangebraun in der Mittagshitze, als stünden sie kurz davor, in Flammen aufzugehen. Vom Fluss zog ein übler Geruch herauf.
    Hier draußen hatten offenbar auch die Engländer gewirkt. Die Uferpromenade hieß Paseo Victoria und verfügte sogar über eine knallrote, original Londoner Telefonzelle. Ruderboote, die auch auf der Themse vorstellbar gewesen wären, glitten auf dem Fluss vorbei. Die Rasenflächen am Ufer waren gepflegt. Nur das Restaurant, in dem sie zu Mittag aßen, hieß Don Ramon, und das Essen war glücklicherweise nicht englisch. Ihr Vater aß Steak Mariposa, einen Fleischbatzen, aufgeschnitten wie ein Schmetterling, und sie eine Portion Tintenfisch. In der Ferne hörte man das Tingeltangel eines Vergnügungsparks, der einen daran erinnerte, dass auch hier draußen die

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