Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Gesichtsausdruck. Es war wahr. Lindsey fiel ihr um den Hals, hielt sie fest. »Giulietta. Mein Gott. Woher kommst du … es ist grauenvoll«, stammelte sie.
Giulietta sank auf die Türschwelle. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie schloss die Augen. Aber das war das Schlimmste. Weil die Bilder der letzten Nacht wiederkehrten. Sofort wiederkehrten. Sie riss die Augen wieder auf und schaute Lindsey an, die neben ihr in die Hocke gegangen war, den Arm um ihre Schulter gelegt.
»Im Fernsehen …«, stammelte Giulietta zwischen Schluchzern. »… ist das wahr. Ist er …«
Sie nickte. »Ich habe es nicht gesehen. Pablo hat es gesehen. Er hat …« Aber sie beendete den Satz nicht, sondern nahm sie einfach in die Arme. »Du armes Mädchen«, sagte sie leise. »Es tut mir so Leid.«
Aber ihre Worte gingen unter in einem kurzen, furchtbaren Schrei.
Einige Mitbewohner des Hauses näherten sich erschrocken.
»Nein …«, hörten sie sie rufen. »Nein. Nein. NEIN …«
Pablo kam herbeigeeilt. Doch auf ein Zeichen von Lindsey blieb er auf der Treppe stehen und hielt schließlich die anderen davon ab, der von Weinkrämpfen geschüttelten Frau in Lindseys Armen zu nahe zu kommen.
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3. Teil
Renaceré
Aun cortando los árboles
no van a parar la primavera
Auch wenn sie alle Bäume fällen,
werden sie den Frühling nicht aufhalten
Inschrift am Colegio Nacional de
Buenos Aires
1
V iviane will dich sprechen.«
Giulietta fuhr herum. Theresa Sloboda stand hinter ihr.
»Träumst du?«, fragte die Choreologin der Deutschen Oper und zog die Augenbrauen hoch.
Giulietta schüttelte den Kopf.
»Geh nachher hoch ins Büro, ja?«
Sie nickte. Dann blickte sie rasch um sich, um sicherzugehen, dass niemand etwas gehört hatte. Aber die anderen waren entweder damit beschäftigt, Sprünge zu üben, oder schauten Nadia zu, der Solistin der zweiten Besetzung, die noch immer Schwierigkeiten mit den
voleos
hatte.
Giulietta hielt sich abseits und schaute aus dem Fenster. Über kahlen Baumkronen hing ein schmutziger Berliner Februarhimmel.
Am zwölften Januar hatte sie in der Deutschen Oper vorgetanzt und war angenommen worden. Das war vier Wochen her. Sie war für die Tango-Suite engagiert worden, wenn auch nur für die zweite Besetzung. Doch mittlerweile sah es so aus, als solle sie in die erste. Giulietta hatte keine Ahnung, was die Ballett-Direktorin von ihr wollte. Aber ein Termin bei Viviane Dubry war in jedem Fall unangenehm. Entweder stimmte etwas nicht mit ihr, dann würde sie sich Kritik anhören müssen. Oder es ging um die Frage der endgültigen Besetzung. Sicher war nur, dass zumindest eine Tänzerin des Ensembles der Deutschen Oper sie nach dem heutigen Tage noch mehr hassen würde, als sie das ohnehin schon tat. Woher diese Antipathie kam, wusste sie nicht. Aber sie hatte sie vom ersten Tag an gespürt. Enska Hakunen, die Finnin, hasste sie. Die Antipathie beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Nur hatte Enska den Vorteil, diesem Ensemble schon seit zwei Jahren anzugehören.
Heert van Driesschen, der niederländische Gast-Regisseur, kannte das Ensemble der Deutschen Oper nicht und ließ sich Zeit mit seinen Entscheidungen. Er war bekannt dafür, Rollen allein nach Leistung und nicht nach Hierarchie zu besetzen. Natürlich bekam Marina Francis, die erste Kammertänzerin, das Solo in
Libertango
, dem zweiten Teil des Stückes. Doch in der Gruppe wurde noch immer umgestellt.
Unangenehm war nur, wie Heert die Umstellungen regelrecht vor dem versammelten Ensemble zelebrierte. Giulietta hatte es heute am eigenen Leib erfahren, als Van Driesschen sie plötzlich zu sich winkte. Maggie Cowler, die Repetitorin vom London City Ballet, stand neben ihm. Außerdem Theresa Sloboda, die in ihre Aufzeichnungen blaufarbige Korrekturen eintrug.
»Wieso machst du nicht, was ich sage?«, fragte er Giulietta barsch.
Sie wurde rot.
Theresa schaute ihn überrascht an. Maggie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte nichts.
»Stimmen meine Schritte nicht?«, stotterte Giulietta.
»Doch. Das ist aber auch schon alles.«
Dann lächelte er. »He, das ist keine Kritik. Wo hast du das her? Diese Bewegung aus der Vierteldrehung in die Vierte?«
Der Mann war gar nicht böse auf sie. Er war nur genervt, dass er nicht verstand, was sie anders machte als die anderen.
»Kannst du mal eben den Anfang von Teil zwei wiederholen.«
Giulietta ging ein paar Schritte rückwärts und begann die Schrittfolge:
Chassé, dégagé,
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